Heimaturlaub auf dem Dorf – Warum müssen manche Menschen andere ständig werten und verurteilen?

Nachdem ich dank Corona seit einigen Monaten nicht mehr von Berlin in den Süden gefahren bin, habe ich mich für ganze zwei Wochen in der Tiroler Provinz entschieden, um endlich wieder physisch einige Zeit mit meiner Familie zu verbringen. So sehr ich sie auch alle liebe, nach kürzester Zeit wurde mir wieder bewusst, warum ich in die Großstadt gezogen bin.

Verschiedene Perspektiven

Neben unfassbar viel Wärme, hausgemachten Leckereien und Streicheleinheiten für die Seele, erlebte ich wieder den Unterschied, der im Denken und der Auffassung zu – ich nenne es mal Patriotismus – zwischen einigen Menschen besteht. Was der Einfluss von Medien und natürlich der Umgang mit diesen ausmacht.

Ich selbst besitze seit einigen Jahren keinen Fernseher mehr und habe ihn noch nicht einen Tag vermisst. Ebenso habe ich mich von täglichen Nachrichten und der ständigen Beschallung von allen anderen gängigen Informationskanälen verabschiedet und bin mir sicher, dass dieser Zustand bis jetzt nur Vorteile für mich gebracht hat.

Worauf ich hinaus will, ist die tägliche Zufuhr von „schlechten“ Nachrichten. Es ist natürlich jeder und jedem selbst überlassen, was er oder sie für gut oder schlecht hält.

So sehr ich meine Familie auch liebe, nach kürzester Zeit wurde mir wieder bewusst, warum ich in die Großstadt gezogen bin.

Die Situation mit Corona, die Tätigkeit meiner Eltern im Tourismus und die unterschiedlichen Lebensweisen überhaupt boten genügend Nährboden für Diskussionen. Dazu kommt die Triggergefahr für Gefühle aus der Kindheit, die es oft nicht einfach machen, sachlich zu bleiben.

Wie in so vielen Familien bringen bestimmte Verhaltensweisen die andere Person in Sekundenschnelle zur Explosion. Man hält sich nicht zurück, wie man es vielleicht tun würde, wenn Fremde dabei sind und ach – wenn ihr an letztes Weihnachten denkt, wisst ihr bestimmt, was ich meine.

Familientreffen mit Vorurteilen 

Somit begann mein Urlaub zum Kaffeetrinken bei meinem Bruder. Er hatte Geburtstag und ist frischgebackener Vater einer zuckersüßen kleinen Elfe. Natürlich dauerte es nur Sekunden und ich wurde nach den Umständen in Berlin gefragt und nur beiläufig fiel der Kommentar: „Na, da leben ja so viele Ausländer, die ständig Großfamilienfeiern feiern ohne Rücksicht auf Verluste.“

Mein Kommentar war nur: „Sagst du, während wir gerade zum Kaffee am Geburtstag eines Angehörigen um einen Tisch sitzen?!“

Ich bin überzeugt, dass die Menschen hier nicht alle und schon gar nicht meine Brüder, ausländerfeindliche Nazis sind, aber oft gar nicht darüber nachdenken, was sie mit solchen Aussagen ausdrücken.

Dazu sei gesag: Wir waren keine hundert Leute, sind aber auch keine kleine, sondern eine große zusammengewürfelte Patchwork-Familie, die es wirklich geschafft hat, unser aller Leben zu bereichern.

Ich kann gar nicht sagen, wie lieb ich meine Stiefbrüder habe, auch wenn wir uns nicht oft sehen. Ebenso ihre Frauen und Kinder. Ich bin überzeugt, dass die Menschen hier nicht alle und schon gar nicht meine Brüder, ausländerfeindliche Nazis sind, aber eben oft gar nicht darüber nachdenken, was sie mit solchen Aussagen ausdrücken.

Wenn hier jemand „einen Ausländer“ sehen möchte, muss er:sie einige Kilometer in die nächste Stadt fahren und „dieser Ausländer“ lebt dann wahrscheinlich schon in zweiter Generation im Tal, wird das Bild und den Stempel und – viel schlimmer – das grundlegende Misstrauen mancher Einheimischer in seinem gesamten Leben nicht los.

Diese:r „Ausländer:in“ lebt wahrscheinlich schon in zweiter Generation im Tal, aber wird das Bild und den Stempel und – viel schlimmer – das grundlegende Misstrauen mancher Einheimischer in seinem gesamten Leben nicht los.

Natürlich gibt es traditionell große Familienfeiern in anderen Kulturen, die letzte traditionelle Tiroler Hochzeit auf der ich allerdings (vor Corona) war, hatte auch 200 Gäste.

Stadt, Land, Rassismus

In solchen Momenten, bin ich früher an die Decke gegangen, was beide Seiten nur noch mehr dazu bewegt hat, lautstark ihre Standpunkte zu vertreten. Heute versuche ich geduldig zu erklären, dass man nicht immer nur die Tiroler Tageszeitung als verlässliche Newsquelle heranziehen könnte, wenn man breitgefächerte Nachrichten beziehen will.

Was ich auf jeden Fall hinzufügen möchte, ist, dass es hier sehr viele absolut freundliche, engagierte und weltoffene Menschen gibt.

Was ich auf jeden Fall hinzufügen möchte, ist, dass es hier sehr viele absolut freundliche, engagierte und weltoffene Menschen gibt – und dass es andersherum auch in Großstädten noch viel zu viel Rassismus und Intoleranz gegenüber vermeintlich fremden Menschen und Kulturen gibt.

Es gibt auch andersherum in Großstädten noch viel zu viel Rassismus und Intoleranz gegenüber vermeintlich fremden Menschen und Kulturen.

Nach ein paar Tagen auf dem Land ist für mich nur eben doch sehr auffällig, wie hier allgemein übereinander gesprochen wird. Meine Mutter fragte mich, als ich mich beim letzten Gespräch über Nachbar Willi mal wieder aus dem Staub machen wollte, worüber ich mit meinen Freunden in Berlin denn so reden würde.

Das andere Leben

Ich hab wirklich nachgedacht und eine Tatsache ist mir ganz klar geworden: Wir reden nicht so viel über andere Menschen in unserem Umfeld und wenn, dann über Neuigkeiten oder Vorkommnisse wie Umzüge, eine neue Partnerschaft, die letzte Vernissage, Reisen oder Ähnliches. Wir verurteilen nicht so viel.

Hier überwiegt oft der ver- oder beurteilende Part, habe ich zumindest so empfunden. Wir reden über uns selbst, wo wir uns gerade im Leben befinden, unsere Jobs, unsere Erfolge und Misserfolge, unsere Unternehmungen, unsere Sorgen, Ängste, die Liebe und unser Glück.

Wir reden nicht so viel über andere Menschen. Wir verurteilen nicht so viel.

Natürlich sind wir keine Engel, aber die Gesprächsthemen unterscheiden sich doch sehr stark. So wie es eben die Lebensinhalte tun. Das ist völlig ok, nur mag ich das Verurteilen, Werten und sich selbst als „in jedem Fall besser“ Darstellen, was das Gegenteil von Verurteilen nunmal ist, nicht.

Meine Methode

Meine Methode und hoffentlich ein kleiner Beitrag, die Welt etwas besser zu machen, ist es, zu beschreiben, warum ich so gerne in Berlin lebe und dankbar für jede neue Begegnung und Gespräche mit Fremden bin, die oft in ein paar Stunden zu Vertrauten werden, wenn man einfach mal zuhört und erfährt, was ihre Geschichten sind.

Meine Methode und hoffentlich ein kleiner Beitrag die Welt etwas besser zu machen, ist es, zu beschreiben, warum ich so gern in Berlin lebe und dankbar für jede neue Begegnung und Gespräche mit Fremden bin.

Ich erzähle, dass Ahmed von nebenan in meiner Abwesenheit meine Blumen gießt und er mich dabei noch nie ausgeraubt hat.

Ich erzähle, dass ich keine Angst habe, nachts über die Sonnenallee zu laufen, weil mich Fhadi vom Späti auf ein Feierabend-Bier einlädt, von seinen Brüdern und Schwestern erzählt und mich noch nie herablassend oder frauenverachtend behandelt hat.

Ich erzähle, wie sehr es mich freut, dass Raffi und ihre italienischen Freund:innen den ganzen Abend Englisch sprechen, obwohl ich die einzige Deutsche bin, die dabei ist.

Ich erzähle, wie Ali Bauingenieurwesen studiert und besser Deutsch spricht als jeder meiner Brüder, obwohl er erst letztes Jahr nach Deutschland kam. Seine Beweggründe: Unabhängigkeit erlangen und nie mehr zurück müssen zu Gewalt und Krieg.

Die Volksfeste sind hier mit dem Konsum von Unmengen Bier und Schnaps verbunden, die Leute kotzen unter die Biertische, die freizügige Partyszene in Berlin wird aber von Grund auf verurteilt.

Ich erzähle von meinem Aussie-Freund Daniel, der ebenfalls fließend Deutsch spricht, wie wir uns verliebt haben und auf einem Nature-Festival neue Freund:innen aus aller Welt gefunden haben.

Das erzähle ich, da hier die Volksfeste mit dem Konsum von Unmengen Bier und Schnaps verbunden sind, die Leute unter die Biertische kotzen und es sein kann, dass sie sich danach mit den Krügen die Köpfe einschlagen, die freizügige Partyszene in Berlin aber von Grund auf verurteilt wird.

Sind wir nicht alle Ausländer:innen auf diesem wunderschönen Planeten? Wer sagt, dass der Fleck, auf dem du zufällig geboren wurdest, dir gehört? Warum sehen wir uns nicht alle als Gäste auf dieser einzigartigen Welt und teilen ein wenig mehr, anstatt Angst davor zu haben, dass uns irgendjemand etwas wegnehmen könnte?

Sind wir nicht alle Ausländer:innen auf diesem wunderschönen Planeten? Warum teilen wir nicht ein wenig mehr, anstatt Angst davor zu haben, dass uns irgendjemand etwas wegnehmen könnte?

Der Fakt, den ich auf jeden Fall festhalten möchte: Wir sind alle Menschen aus Fleisch und Blut und sind immer so glücklich, wie wir uns entscheiden, glücklich zu sein.

Headerfoto: Sinitta Leunen via Unsplash. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür! 

annenuranne fand als gebürtige Münchnerin ihren Herzensort in Berlin. Hauptberuflich ist sie HRlerin, in welcher Position sie ihre Passion, Menschen zu fördern, jeden Tag leben kann. Nebenbei schreibt sie begeistert Texte über Sex, Drugs, die Liebe, wahrer Dienstleistung und der Selbstverwirklichung im Beruf.

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