Goethe fabulierte einst in blumiger Sprache über das Menschsein in all seiner Pracht, metaphorisch herhalten musste dafür ein Spaziergang durch die aufkeimende Frühlingsflora. Ich sitze stattdessen am Fenster meiner Altbauwohnung, mit Blick auf die Hauptverkehrsstraße und Parkanlage und sehne mich nach eben jenen Frühlingsgefühlen, die der alte Meister vielleicht gar nicht meinte, aber ich jetzt langsam aber sicher seit nun mehr einem Jahr so vermisse.
Der Anblick von Paaren, die an mir vorbeihuschen, Kindern, deren Eltern ihnen lachend zurufen und Rentner:innen, die sich die Maske tiefer ins Gesicht ziehen, könnte sie doch jetzt unterwegs jemand mit diesem unsichtbaren Monstrum anstecken, dass unser aller Welt so ins Stocken geraten ließ, könnte mich nicht unruhiger werden lassen.
Nein, ich möchte nicht schimpfen, ich weiß ja darum, wie gut es mir geht, um meine Privilegien und meinen Netflix-Kanal. Ich weiß, dass ich mir jederzeit eine Pizza bestellen kann und demnächst sogar das Haus verlassen könnte, um im Laden eine neue Frühjahrsgarderobe zu shoppen.
Ich weiß das alles und doch möchte ich es loswerden: den Schmerz der Winterstarre, über die verloren gegangenen Monate und Möglichkeiten. Über Lieben, die nicht entstehen konnten, über Erfahrungen, die nicht gemacht wurden, und über all die Wehmut, die ich empfinde, wenn mir Freundinnen von ihren aufkeimenden Depressionen, ihren Ängsten, Sorgen und Wünschen berichten.
Etwas Geduld noch!
Wir halten uns nicht nur nicht mehr in den Armen, wir finden auch nur noch schwer Zugang zueinander. Es gibt nichts zu erzählen, weil wir keine Anekdoten mehr produzieren. So halten wir uns abwechselnd in der Badewanne oder vor dem Smartphone auf, lesen, wenn wir ganz gut sind, tatsächlich einmal ein Buch, bilden uns weiter oder treiben Sport.
Dennoch schwebt in dieser Zeit viel Angst über unseren Köpfen. Wir hören uns plötzlich denken. Wir fühlen uns nämlich nicht nur einsam, sondern sind es. Wir finden keine Ablenkung und keine Zerstreuung mehr, weil alle Felder abgegrast und alle Schichten umgewühlt wurden. So richtet sich der Blick bereits seit einem knappen Jahr nach innen, da wo er eben auch oft hingehört.
Nur verzweifelt so manch eine:r von uns an dem, was er:sie zu sehen bekommt. Die glänzende äußerliche Fassade ist nun einmal nicht das dunkle schwere Innenleben. Dort toben die Wolken, die Gedanken laufen nicht selten Amok. Wir erfinden uns nicht mehr neu, weil es aktuell niemanden interessiert, was wir lesen, welche Fitnessübung wir vom heimischen Sofa aus machen oder welcher Fernlehrgang uns besonders viel Geld gekostet hat.
Wir erfinden uns nicht mehr neu, weil es aktuell niemanden interessiert, was wir lesen oder welcher Fernlehrgang uns besonders viel Geld gekostet hat.
Niemand möchte uns in unserer grauen Jogginghose sehen oder Michelle Pfeiffer in ihrer Glitzerrobe. Wir brauchen keine Spotify-Liste gespickt mit dem hundertsten Podcast zu „Liebe dich selbst!“, wenn wir uns doch gerade nach der innigen und echten Liebe anderer sehnen.
Alles, aber auch alles an diesem Frühling sollte Mut machen, doch schon ein kleiner Schnupfen lässt Panik in uns aufsteigen: „Hört denn das nie auf?“ Natürlich wollen wir endlich wieder rausgehen, Freund:innen treffen, Cafés besuchen und Abenteuer schaffen, mit dem einen Menschen, der uns neulich in der Apotheke unter der Maske so herzlich angelächelt hat, aber zu welchem Preis?
So sitze ich also noch eine Weile an meinem Fenster, höre eine Krankenwagensirene vorbeiziehen und denke: „Zum Glück bin ich gesund.“ – Ich will diesen Frühling, ich brauche dieses Menschsein, aber ich möchte all das wahrhaftig und nicht in Bruchstücken. Die farbigen Kleider werden wiederkommen, wir werden wieder auferstehen, nur noch etwas Geduld.
Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.
Headerfoto: Joshua Rawson-Harris via Unsplash. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!