Wie sich das anfühlt, Momente der Jugend an ein Virus zu verlieren

Ich beobachte eine Gruppe Schüler:innen, die vor Betreten ihres Schulhofs die Maske über Mund und Nase ziehen und stelle mir vor, wie es wohl für Jugendliche ist, unter Corona erwachsen zu werden. Eine vage Erinnerung weist mich darauf hin, dass ich es doch irgendwie weiß. Dass ich weiß, wie es sich anfühlt, prägende Momente der Jugend an ein Virus zu verlieren.

Die Erinnerung ist blass und irgendwo weit hinten in meinem Bewusstsein verstaut. Weil die dazugehörige Zeit so lang her ist. Oder vielleicht, weil sie kaum erinnerungswürdige Momente hinterlassen hat.

Meine Tage bestanden zwei Jahre lang aus einem schier endlosen Brei an im Bett liegen, aufstehen und fertigmachen, um dann doch wieder ins Bett zu kriechen und die Krankschreibung für die Schule vorbereiten zu lassen.

Dazwischen die volle Dröhnung jeglicher Serien, die ich legal oder illegal fand, eine Menge regungslosen An-die-Decke-Starrens und vereinzelt Schulbesuche, Pausen mit Menschen, die sich weit weg und fremd anfühlten.

Ich wollte mithalten, nichts verpassen.

Im Sommer zwischen meinem 10. und 11. Schuljahr infizierte ich mich mit dem Epstein-Barr-Virus und Pfeiffersches Drüsenfieber brach aus. Ich litt zunächst an einer Mandelentzündung, sehr hohem Fieber, Gliederschmerzen, geschwollenen Augen und Fieberträumen. Meine Blutwerte waren im Keller, Milz und Leber geschwollen.

Das war eine Woche vor meinem ersten Schultag auf der gymnasialen Oberstufe. Und während ich mit den akuten Symptomen rang, erlebten meine Freund:innen die ersten Wochen an der neuen Schule, rangen mit neuem Stoff und unbekannten Mitschüler:innen.

Das Fieber sank schließlich und pendelte sich bei dauerhaft erhöhter Temperatur ein. Ich war nicht mehr ansteckend und ging zur Schule. Lernte meine neuen Mitschüler:innen und die Schule drei Wochen nach allen anderen kennen. Lebte mich ein paar Tage ein und musste dann ein paar mehr zuhause bleiben.

Ich lernte meine neuen Mitschüler:innen und die Schule drei Wochen nach allen anderen kennen. Lebte mich ein paar Tage ein und musste dann ein paar mehr zuhause bleiben.

95 Prozent der europäischen Bevölkerung ab 30 sind mit dem Epstein-Barr-Virus infiziert. Wer sich im Kindesalter infiziert, merkt unter Umständen nichts vom Virus, bei Erwachsenen verläuft es unterschiedlich leicht oder schwer. Meine beste Freundin war Monate vorher an Pfeifferschem Drüsenfieber erkrankt und hatte zwei Wochen mit unangenehmen Symptomen zu kämpfen. Danach konnte sie wie gewohnt weitermachen.

Ich versuchte dasselbe. Einen Monat nach meiner Infektion – ich hatte die vergangenen Tage bereits die Schule besucht – ging ich zum Geburtstag eines Freundes und trank. Viel. Ich wollte nichts verpassen, mich nicht abhängen lassen. Aufholen, was meine Freund:innen die vergangenen Wochen ohne mich erlebt hatten. Dass ich meine Milz und Leber damit in große Gefahr brachte, war mir nicht vollständig bewusst. Vielleicht interessierte es mich auch einfach nicht. Ironischerweise wollte ich einfach nur leben. Meine Jugend und Freund:innen zurück.

Das Virus zwischen uns

Aber da stand etwas zwischen uns – zwei Jahre lang. Zwischen mir und meinen Freund:innen, meinen Mitschüler:innen: das Virus. Meine Abwesenheit und meine sich entwickelnde Depression, die ich maskierte wie heute Mund und Nase. Ihre Wut und ihr Ungerechtigkeitsgefühl bezüglich meiner nach wie vor stabilen Noten.

Das ist wohl der Unterschied zwischen mir und der Corona-Jugend: Ich konnte mich zwischen so vielen Menschen tummeln, wie ich wollte (in den wenigen Momenten, in denen mein Körper und meine Psyche es zuließen) und war zugleich ganz allein. Allein mit dem Virus, dem Zuhause bleiben.

Die vermeintliche Abstraktheit haben beide Situationen gemein. Menschen, die nicht selbst am Virus erkranken, glauben unter Umständen nicht daran. Es ist nicht sichtbar und wirkt nicht existent. Anstelle von Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen umgaben mich Mitschüler:innen, vermeintliche Freund:innen und Lehrer:innen, die nicht an meine Erkrankung und die logische Konsequenz, zuhause bleiben zu müssen, glaubten.

Anstelle von Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen umgaben mich Mitschüler:innen, vermeintliche Freund:innen und Lehrer:innen, die nicht an meine Erkrankung glaubten. 

Ärzt:innen wussten nicht, was sie mit mir machen sollten. Ich litt knapp zwei Jahre lang unter erhöhter Temperatur, Fieberschüben, Luftnot und extremer Erschöpfung. Einen Impfstoff gab es nicht. Gibt es immer noch nicht. Lediglich die Symptome können behandelt werden. Erkrankte brauchen viel Ruhe.

Und wann immer ich mir diese nahm, fühlte ich mich schuldig. Ich wusste, dass meine Noten darunter litten, dass die meisten Lehrer:innen nicht akzeptieren wollten, dass meine mündlichen Noten wegfielen. Ich wusste, dass meine Mitschüler:innen über mich redeten und nicht verstanden, warum ich immer fehlte. Dass sie es unfair fanden, dass ich trotzdem gute Noten schrieb in den Klausuren, an denen ich teilnehmen konnte.

Das Danach wird kommen. Es wartet auf mit Momenten der Lebendigkeit und des puren Glücks.

Ich möchte Pfeiffersches Drüsenfieber nicht mit dem Corona-Virus vergleichen, denn sie sind nicht vergleichbar. Die Konsequenz der einen Erkrankung: der erkrankte Mensch muss (unter Umständen über längere Zeit) zuhause bleiben. Die Konsequenz der anderen: im Idealfall bleiben die allermeisten Menschen zuhause – und Millionen Tote.

Aber ich kenne es gut, dieses Zuhause bleiben, ich bin quasi Expertin. Ich weiß, wie es ist, den ersten legalen Club-Besuch, große Teile der Schulzeit, neue Bekanntschaften, Pausen mit Freund:innen, Feiern, unzählige Dates und die eigene mentale Gesundheit an ein Virus zu verlieren.

Und daher weiß ich: Selbst wenn es manchmal schier unendlich scheint und als gäbe es kein „Danach“ – es wird eins geben. Vielleicht dauert es noch ein, zwei Jahre anstatt – wie anfangs hoffnungsvoll angenommen – nur zwei bis drei Wochen. Die Zeit kriegt niemand von uns zurück. Aber all die verpassten Meilensteine können nachgeholt werden.

Die Zeit kriegt niemand von uns zurück. Aber all die verpassten Meilensteine können nachgeholt werden.

Und wie viel befreiender und außergewöhnlicher wird es sich anfühlen, plötzlich wieder unter viele Menschen gehen zu können, feiern zu können. Es fühlt sich ganz genauso an, wie lange Zeit antriebslos im Bett zu liegen und dann plötzlich von Energie durchströmt zu werden, wie tief Luft holen nach längerer Zeit flach atmen.

All die Menschen in den Startlöchern, um bald deinen Lebensweg zu kreuzen, die Musik, die auf tanzende Menschenmassen wartet und deine mentale Gesundheit, die plötzlich um ein Gros erleichtert wird, weil du endlich wieder sorgloser leben kannst. Lebendig und frei.

Und während wir darauf warten und zuhause (und auf Spaziergängen) ausharren, können wir die Zeit besser nutzen als ich damals. Wenn wir mental und physisch dazu in der Lage sind, können wir das bestmögliche aus der Situation rausholen und uns schon jetzt Momente der Freiheit und des lebendig Fühlens schaffen. Und wenn das für dich Serien en masse sind, dann sei es so. Ich hab sie leider schon alle durch.

Headerfoto: Jude Infantini via Unsplash („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!

Jenny liebt Musik. In besseren Zeiten schlug sie sich die Nächte in Fernbussen um die Ohren, um Konzerte quer durch Europa zu besuchen und sich im Moshpit zu verausgaben. Seit das in der Form nicht mehr möglich ist, ist sie seltener verletzt und kann sich voll und ganz aufs Lesen und Schreiben konzentrieren. Das liebt sie mindestens genauso sehr und hat so ihren Weg ins traumhafte im-gegenteil-Team gefunden. In ihrer Freizeit hält sie sich stundenlang in Buchhandlungen auf, liebt Kino und ernährt sich ausschließlich von Nudeln. Besonders Udon!

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