Ich fühle mich merkwürdig rastlos. Ruhelos. Meine Finger- und Zehenspitzen wollen ständig in Bewegung sein, meine Konzentration schweift meinem Blick folgend vom Laptopbildschirm nach draußen aus dem Fenster. Verfolgt das Eichhörnchen, die Tauben, bleibt kurz am leeren Balkon der Nachbarin hängen und richtet sich dann – widerwillig – zurück auf den Bildschirm.
Noch vor wenigen Wochen waren wir beide am anderen Ende der Welt, mit unserem Traum im Gepäck, Freiheit unter den Fußsohlen, brennender Sonne auf unseren Schultern. Haben neue Sommersprossen, Lachfalten und Erfahrungen angesammelt, die für ein Leben lang uns gehören. Weit weg von allem, von Erwartungen und Zwängen, von Normalität und dem ganz normalen Wahnsinn, von Alltagstrott und Pflichtgefühl habe ich mich frei und unbeschwert gefühlt wie lange nicht.
Noch vor wenigen Wochen waren wir beide am anderen Ende der Welt, mit unserem Traum im Gepäck, Freiheit unter den Fußsohlen, brennender Sonne auf unseren Schultern.
Eigentlich wären wir erst in einigen Tagen zurückgekommen. Haben uns vorgestellt, wie gut es sich anfühlen wird, nach über einem halben Jahr allerliebste Menschen fest in die Arme zu schließen, bei Wein und den ersten schüchternen Frühlingssonnenstrahlen Fotos anzugucken und Geschichten auszutauschen, Freunden und Familie wieder nah zu sein.
Stattdessen kam dieser Virus, hat unsere Reise auf den Kopf gestellt, uns innerhalb von Stunden die in den Pass gestempelte Aufenthaltserlaubnis in einem Land weggenommen, das nicht einmal ein richtiges Krankenhaus besitzt und uns Hals über Kopf einen der letzten Flüge zurück nach Deutschland nehmen lassen.
Und nun sind wir wieder hier, zuhause. In diesem Alltag, der sich gleichzeitig so ähnlich und so überhaupt nicht nach dem anfühlt, was wir vor der Reise mit dem Zuziehen unserer Wohnungstür hinter uns gelassen haben. Ich sollte glücklich sein, gerade. Gehöre ich doch zu den Menschen, die noch Arbeit haben und nicht sonderlich viel, aber genug verdienen für Miete, Essen und den dritten Kaffee mit Barista-Hafermilch.
Gehöre gleichzeitig aber auch zu den Menschen, die keine Sicherheit haben. Keinen Arbeitgeber, kein Kurzarbeitergeld, keine Arbeitslosenversicherung für den Notfall. Selbstständigkeit, Fluch und Segen zugleich in diesem Moment. Dankbar über die beiden verbleibenden Projekte, die weiterlaufen. Immer in dem Wissen, dass – würde nur eines von ihnen doch plötzlich enden – mein Sicherheitsnetz im Sekundenbruchteil reißen würde. Einatmen, ausatmen. Den Blick nochmal kurz zum Fenster schweifen lassen.
Ausbrechen wollen aus der Enge im Brustkorb
Ich fühle mich eingesperrt. Nach fünf Monaten größtmöglicher Freiheit eigentlich kein großes Wunder. Gehe spazieren, lasse mir von der Sonne ins Gesicht lachen und stufe den Supermarktbesuch als das spannendste Ereignis meiner Woche ein – dennoch, das beengte Gefühl in meiner Brust bleibt. Vielleicht, weil es eigentlich am meisten aus mir selbst heraus entsteht.
Ich bin ein Mensch, der sich über Sonne freut. Der sich aber gleichzeitig oft genug von ihr unter Druck gesetzt fühlt. An Tagen, an denen ich die Wohnung, eigentlich mein Bett gar nicht erst verlassen will. An Tagen, an denen alles in mir aufgewühlt ist, mich Emotionen hin und her schleudern, an denen es innerlich stürmt. Ich bin es gewohnt, zu kämpfen. Gegen Ängste und Zweifel, gegen Erwartungen und Konventionen, für meinen inneren Frieden. Viel zu oft ein Widerspruch in sich.
Ich bin es gewohnt, ausbrechen zu dürfen. Ans Meer zu fahren, wenn mein Zuhause zu eng wird, mit wunderbaren Menschen zu viel Wein zu trinken.
Ich bin es gewohnt, zu funktionieren. Lächeln und nicken, arbeiten, auch wenn meine Gedanken keine Sekunde innehalten können, sprechen, fühlen, nicht zu viel und nicht zu wenig. Es fühlt sich kräfteraubend an, manchmal. Es fühlt sich sicher an, oft. Und dennoch bin ich es ebenfalls gewohnt, ausbrechen zu dürfen. Ans Meer zu fahren, wenn mein Zuhause zu eng wird, mit wunderbaren Menschen zu viel Wein zu trinken, weil manche Ängste Gott sei Dank nicht schwimmen können. Mich festhalten zu lassen, wenn alles in mir drin mal wieder zu zerrinnen droht.
Einatmen, ausatmen, Decke über den Kopf
Ich trinke Wein vor kleinen Bildschirmen, hole mir so viel Nähe, wie du mir geben kannst, schaue Bilder unserer Reise an und rufe mir das Rauschen des Meeres und das Gefühl von Sand unter meinen Füßen in Erinnerung. Es ist nicht dasselbe. Ich bin so unheimlich dankbar dafür, dass du und ich uns ein Zuhause teilen, dass du mir so viel gibst und ich nicht alleine mit meinem Gedankenkarussell und dieser Unsicherheit sein muss.
Aber gerade sehne ich mich so sehr nach den Armen meiner besten Freundin um meine Taille, nach ihrem Lachen und dem Kuss, den sie mir auf die Wange drückt. Sehne mich nach Abenden mit unseren Freunden, nach Gelächter und Ausgelassenheit, nach Wochenendausflügen und Zelten am Meer. Und ja, es ist gerade eigentlich nicht wichtig, Gesundheit geht vor. Wie bewusst mir das ist.
Wie schwer es mir dennoch fällt, wie sehr ich mir all das wünsche und dabei immer ruheloser werde. Wie das kleine Mädchen, das einfach nicht an die Dose mit den Keksen kommt. Einatmen, ausatmen, Decke über den Kopf. Nicht daran denken, dass es noch Wochen, vielleicht Monate so weitergeht. Dich unter die Decke ziehen, einatmen, ausatmen, Kopf aus.
Nicht daran denken, dass kommende Woche die Therapie begonnen hätte, deren Start ich seit Monaten als festes Ziel, als doppelten Boden vor Augen hatte. Praxis dauerhaft geschlossen, nochmal von vorn. In einer Zeit wie jetzt. Ich will schreien, so sehr frustriert es mich, auf Hilfe von außen angewiesen zu sein. In einer Welt voll berstender Wartelisten, in einer Welt, in der eine Therapie im Kopf vieler Menschen noch immer gleichzusetzen ist mit diesem schlecht greifbaren Wahnsinn, zu dem man gern anderthalb Meter Sicherheitsabstand hält.
Das kleinste Stückchen Mut
Funktionieren, sage ich mir. Immer wieder, mein stummes Mantra. Will Menschen sagen, wie kräftezehrend es sich anfühlt, nicht zu wissen, ob ich noch Wochen oder Monate auf Unterstützung warten muss. Wie viel schwerer es diese beschissene Isolation zusätzlich macht. Probiere, wie diese tapsigen Worte auf meiner Zunge schmecken, bleibe letztendlich doch lieber stumm. Ich fühle mich schwach, während ich all das schreibe. Irgendwie zerbrechlich. Irgendwie zum Kotzen.
Will doch eigentlich immer nur stark sein, immer nur mutig – und schaffe es einfach nicht, mir wirklich bewusst zu machen, wie mutig und stark und bewundernswert ich Menschen finde, die ganz offen damit umgehen, wenn manchmal einfach gar nichts mehr geht. Wenn die Welt ihnen über den Kopf wächst und sie sich tage- oder wochenlang besten Gewissens unter der Bettdecke verstecken. Wenn sie mit Diagnosen psychischer Krankheiten genauso offen umgehen wie mit einem Blinddarmdurchbruch. Wage mich selbst in diese Offenheit, schreibe Texte, die unbekannte Menschen lesen und habe trotzdem Angst, verurteilt zu werden. „Ist das jetzt Mut oder Schwäche?“, fragt mein immerzu zweifelnder Kopf. „Halt einfach die Klappe“, ruft mein rebellierendes Herz.
„Ist das jetzt Mut oder Schwäche?“, fragt mein immerzu zweifelnder Kopf. „Halt einfach die Klappe“, ruft mein rebellierendes Herz.
Als ich heute Morgen die Bettdecke hinter mir gelassen habe, stand ich nackt vor dem Spiegel und habe mir zugelächelt. Mich für das knallrote Höschen in meinem Schrank entschieden, wohlwissend, dass ich es nur unter der gemütlichen Jogginghose verstecken werde.
„Be bold“, habe ich gemurmelt und dich damit zum Schmunzeln gebracht. Sind diese beiden Worte doch irgendwie zum Inbegriff unserer letzten Monate geworden. Und vielleicht ist genau das der Grad an Mut, den wir gerade alle tagtäglich beweisen, und der mehr als ausreicht in einer so unsteten Zeit.
Wenn du nun ein philosophisches Fazit erwartest, du wunderbarer Mensch, der sich Zeit genommen hat, diese Zeilen zu lesen, dann muss ich dich leider enttäuschen. Ich fühle mich immer noch rastlos, immer noch ein bisschen schwach, und immer noch nicht mutig genug gemessen an meinen Idealen. Aber vielleicht ist es heute genau dieses rote Höschen, das genügt.
Und vielleicht ist es morgen genau dieses vorlaute Grinsen, das ich aller Unsicherheit zum Trotz meinem Spiegelbild schenke, bevor der nächste Anruf in der nächsten Praxis folgt. Vielleicht ist es jedes einzelne Einatmen. Jedes einzelne Ausatmen, das in Zeiten wie diesen – und, wenn wir ehrlich sind, immer – genügt, um unseren Ängsten die Stirn zu bieten.
Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.
Headerbild: Ayo Ogunseinde via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Danke Luisa für diesen wundervollen Text. Du sprichst mir aus der Seele und es ist gut zu lesen, dass es Leute gibt die genauso denken und sogar in der Lage sind ihre Gefühle in Worte zu fassen. Ich finde es mutig, dass du darüber schreibst. Mutiger, als ich es je sein werde. Aber Texte wie deine geben mir Kraft. Und dafür danke ich dir.
Bleib gesund und halte durch – es kommen auch wieder bessere Tage (hoffe ich zumindest)