„Nirgendwo bist du, und doch bist du überall.“ – Vom Lernen, Verluste zu verarbeiten

Ich habe verlernt, zu schwimmen. Obwohl die Leute sagen, dass es mit dem Schwimmen so ist, wie mit dem Fahrrad fahren. Einmal gelernt, nie wieder vergessen. Ich habe verlernt, zu schwimmen. Und dich nie wieder vergessen. Wahrscheinlich war es genau die Region in meinem Gehirn, in der abgespeichert war, wie schwimmen funktioniert, die nun mit den Erinnerungen an dich überschrieben wurde. Die Daten sind weg. Gelöscht und überschrieben, mit Dingen, die so viel schwieriger zu begreifen sind als eine Schwimmtechnik.

Ich weiß es noch genau, der Moment, als du ankamst, hier an meinem Ufer. Ich habe dich zuerst skeptisch aus der Ferne beäugt, mich gefragt, ob du interessant genug sein könntest, um einen näheren Blick zu riskieren. Und dann hat ein einziger Blick in deine Augen ausgereicht, um von diesem Zeitpunkt an nichts anderes mehr zu sehen als dich. Hinter dir ist alles verschwommen, alles was war und alles, was noch kommen wird.

Du und ich, mit 50 Jahren in einer Hängematte

Du mochtest mein Ufer hier. Langsam, aber sicher ist es auch für dich zu einem Ort geworden, an dem du loslassen konntest. Loslassen, deine Plänen, deine Erwartungen, dein Streben nach ständiger Perfektion. Immer öfter kamst du angeschwommen und jedes Mal, als du aus dem Wasser stiegst, hat mich das ganz sprachlos gemacht.

Gekommen, um mir zu zeigen, was es bedeutet, einen anderen Menschen zu lieben. Nur für das, was er ist, anstatt für das, was er war oder was er sein könnte. So, wie du bist, egal in welchem Augenblick, mehr wollte ich nicht. Das war alles. Deine Worte haben begonnen, mit meinen Gedanken zu tanzen. Dein Herzschlag wurde zu meinem Lieblingslied, das noch heute unaufhaltsam in meinem Kopf spielt, wie ein Ohrwurm, der nicht still zu kriegen ist. So sehr ich es auch versuche.

Deine Worte haben begonnen, mit meinen Gedanken zu tanzen.

Als du anfingst, immer länger hier am Ufer zu bleiben sah ich uns, wie wir noch in 50 Jahren hier, in einer Hängematte, zwischen zwei Palmen gespannt, liegen und über das Universum sprechen. Du hast Straßen und Wege gebaut, auf Terrain, das vorher unerschlossen war. Du hast all den angespülten Schutt und die Algen weggeräumt, aus den herabgefallenen Kokosnüssen Cocktailbecher für uns geschnitzt. Durch dich ist das Ufer hier Zuhause geworden, ein Zuhause, das es nie gab. Und dein Lachen hat jeden hier verzaubert und mir meines wiedergeschenkt.

Trotzdem: Die Rufe von den anderen Ufern hast du nie ganz ignorieren können. Mal waren sie lauter, mal leiser in deinen Ohren. Zu den Zeiten, in denen sie leise, kaum hörbar waren, da bliebst du hier. Hier war Glück. Ein paar Sekunden Ewigkeit. Cocktails, Lachen, Küsse, Gespräche und die Welt vergessen. Nie hätte ich vorher geglaubt, dass der Mensch, der da einst so unverhofft aus dem Wasser stieg, die Quelle meines Glücks werden würde.

So ist das mit den Quellen. Sie spenden Wasser über Wasser, Tropfen für Tropfen sorgen sie für Wassermassen, die alles mitreißen, das sich ihnen in den Weg stellt. Kraftvoll und unerschütterlich. Bis zu dem Tag, an dem sie versiegen. Für immer.

Zu kämpfen war nie eine Option für dich.

Als du mein Ufer verließt, war es, als wären einhundert Haie hinter dir her. Flucht oder Kampf. Der Kampf war für dich nie eine Option. Und so blieb ich hier, schaute dir nach und wusste, dass du meine Rufe, die nichts anderes als deinen Namen kannten, schon in einigen Metern nicht mehr hören würdest. Ich stehe am Ufer und kann dich nicht mehr sehen. Doch ich weiß, dass du da bist, denn ich spüre dich noch, in meinem ganzen Körper, und am meisten in meinem Herzen.

Viel mitgenommen hast du nicht. Es ist alles noch da. Als würde ich nur noch ein paar Momente abwarten müssen, bis du endlich wieder am Horizont erscheinst. Erst als ein kleiner schwarzer Punkt, dann würde sich deine Silhouette immer detailreicher formen, bis ich dann deine wunderschönen Haare und deine Augen, die sich mit dem glasklaren Wasser darum streiten, wer das mitreißendere Blau sein Eigen nennt, klar vor mir erkennen kann. Doch die paar Momente werden zur Ewigkeit.

Nirgendwo bist du, und doch bist du überall.

Ich drehe mich langsam weg vom Wasser und schaue landeinwärts. Nirgendwo bist du, und doch bist du überall. Überall suche ich dein Gesicht und verliere meines dabei jedes Mal mehr. Es ist so still hier, dass ich in meinen Gedanken nur den Ruf der Bilder unserer gemeinsamen Momente höre. Die Reste der Kokosnüsse liegen noch im Sand und die Fliegen beginnen, die Geschichten der letzten Nacht daraus zu lesen. Sie scheinen mir betrunken von dem ganzen Glück zu werden.

Das hast du allerdings mitgenommen. Mein Glück, meine Hoffnung. Das, was du sorgsam vor mir ausgebreitet hast, hast du vor deiner Flucht akkurat wieder verstaut. Denn so bist du, alles muss seine Ordnung haben. Es gibt einen Plan, und von diesem wird nicht abgewichen. Entscheidungen, einmal getroffen, werden nicht rückgängig gemacht. Das hier, das war nicht das Ufer, das du dir in deinen schönsten Träumen ausgemalt hast. Das hier, das war nur der Zwischenstopp. Die kleine Sandbank, auf der sich während einer langen Reise ein paar Momente ausgeruht wird.

Trübe Farblosigkeit

Und ich bleibe hier. Auf jedem Stock und jedem Stein steht dein Name. Doch manchmal, da bin ich so entschlossen den Namen abzukratzen, egal, worauf er steht. Dann bin ich mir sicher, dass es möglich ist, wenn ich es nur entschlossen genug versuche. Aber ich scheitere, ich scheitere jedes verdammte Mal.

Während meiner Anstrengungen, deinen Namen verschwinden zu lassen, sehe ich vor meinem inneren Auge nichts anderes als dich. Dich und deine Worte, wie du von deinen Träumen erzählst und von deinen Großeltern. Ich sehe dich, wie du rauchst und wie du lachst. Wie du morgens den Wecker ignorierst und mich auf die Stirn küsst. Wie von Geisterhand nehme ich den dicken schwarzen Edding aus meiner Tasche und ziehe die Buchstaben deines Namens nach. Immer wieder.

Das Blau des Wassers, das sich in kratzigen Wellen unbeirrbar an das Ufer wirft, ist zu einem undefinierbaren Grau geworden.

Langsam wird es kalt und stürmisch. Das Blau des Wassers, das sich in kratzigen Wellen unbeirrbar an das Ufer wirft, ist zu einem undefinierbaren Grau geworden. Und in mir, da ist auch alles grau. Kein sattes, kräftiges Grau, sondern eines, das gar keines ist. In mir ist Farblosigkeit. Nichtssagend.

An manchen Tagen lichtet sich ein wenig die Wolkendecke und ich höre Lachen und Spaß und bunte Farben von den anderen Ufern herüberschallen. Dann stelle ich mich so weit in das Wasser, wie mir meine Beine erlauben, noch den Sand unter ihnen zu spüren. Was diese Ufer wohl bereithalten würden? Würde ich dich dort noch einmal finden? Oder würde ich dort jemanden treffen, den meine Ankunft dort ebenso erschüttern würde, wie mich einst deine? So sehr ich es herausfinden möchte – ich kann nicht mehr schwimmen.

Auf zu neuen Ufern!

Ich schaue mir die Farblosigkeit etwas genauer an. Blicke umher. Streife die Dinge, die du zurückgelassen hast. Da sind Erinnerungen an Momente, die mir den Atem geraubt haben. Da sind Ansichten, die du mir nähergebracht hast, so wertvoll für meine Gedanken. Und da bist immer noch Du. Und die Liebe zu dir. Mit der Liebe ist da die Erkenntnis über sie. Durch dich durfte ich lernen, was sie bedeutet, ihren wahren Kern begreifen.

Einem anderen Menschen bedingungslose Liebe entgegenzubringen. Die Liebe nicht als Tauschgeschäft zu sehen, sondern als ein Geschenk, für das es nicht immer eine Gegenleistung braucht. Die Liebe zu dir ist in mir, und diese werde ich, im Gegensatz dazu, wie man schwimmt, niemals vergessen.

Vom anderen Ufer trägt der Wind schöne Melodien herüber. Und mein Blick fällt auf das kleine, alte Holzboot, das verlassen und unbeachtet nur ein paar Meter entfernt friedlich im Sand ruht. Vielleicht kann ich nicht mehr schwimmen, aber um neue Ufer zu erreichen gibt es nicht nur diese eine Möglichkeit. Und so packe ich die wichtigsten Sachen zusammen, etwas Mut und Vertrauen darauf, dass es noch mehr gibt.

Dass unsere Momente vielleicht einzigartig waren, so wie wir, aber dass es nicht die einzigen sind, die das Leben für mich bereithält. Ich beginne also zaghaft die beiden Paddel ins Wasser gleiten zu lassen und rudere immer entschlossener in Richtung Neuanfang. Wir wissen nie, was ein neues Ufer für uns bereithält. Wir können nur darauf vertrauen, dass es besser ist, als das, was wir zurücklassen. Und bis wir da endlich wieder festen Boden unter unseren Füßen spüren, lassen wir uns ein Stück tragen, von dem Wasser und von den Erinnerungen des alten Ufers, die uns niemand nehmen kann. Um es mit den Worten von U2 zu sagen:

„Through the storm we reach the shore

You give it all but I want more

And I’m waiting for you

With or without you

With or without you“

Leinen los.

Headerfoto: David Straight via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

MADAME FOX schreibt Geschichten aus dem Leben, mal traurig, mal lustig, aber immer echt. Mehr von ihr könnt Ihr auf ihrem Blog lesen.

1 Comment

  • Einer der schönsten Artikel, die ich je gelesen habe. Der Artikel ist bildlich wahnsinnig gut dargestellt, dass man sich vorkommt wie in einem traurigen Liebes-Märchen. Man steckt einfach mit allen Emotionen drin. Wahnsinn!

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