Seitdem ich denken kann, bin ich polyamor. Ich konnte mich schon als Teenager gleichwertig in mehrere Menschen verlieben, habe niemals Eifersucht empfunden und hatte große innere Konflikte mit dem Thema Treue.
Meine ganze Teenagerzeit war ich heftig darum bemüht, ganze Lügenlabyrinthe zu erschaffen, um zu verheimlichen, dass ich „fremdgegangen“ war, dementsprechend waren meine Beziehung meist nur von kurzer Dauer und gingen auch sehr rabiat auseinander, denn im Lügen war ich niemals gut – im Gegensatz zum Lieben.
Erst in meinen Zwanzigern erschloss sich mir endlich, dass ich mit meiner Art zu lieben keinesfalls ein Exot war.
Erst in meinen Zwanzigern erschloss sich mir endlich, dass ich mit meiner Art zu lieben keinesfalls ein Exot war. Immer mehr Artikel über „offene Beziehungen“ und auch der Begriff „polyamor“ ploppten in meiner Bubble auf und ich hatte endlich ein Label, das ich mir aufs Herz kleben konnte und mit dem ich mich gut fühlte.
Mit dem Label kam der Spaß. Die Menschen, die ich als polyamor identifizieren konnte, waren aufregend und neu für mich, auch wenn wir dieselben Sichtweisen teilten. Ich konnte mit ihnen frei über Lust und Gefühle reden, ohne Angst vor Verlusten.
Mit einer brutalen Ehrlichkeit stapfte ich zwischen Beziehungen, freien Affairen und Affairen mit verheirateten Männern in meinem idealisierten Liebes-Disneyland umher. Ich war in Berlin und um die zwanzig. Das ging mega klar.
Ich will ohne Ende Liebe verteilen, habe aber nur 500 Megabeat Herzschlagkontingent.
Und so ultimativ richtig sich das für mich anfühlte und noch anfühlt, kriege ich es heute, also Anfang 30, einfach nicht mehr gebacken. Denn, so poly ich auch gern sein würde, meine Zeit und auch meine emotionale Tragfähigkeit sind begrenzt. Ich will ohne Ende Liebe verteilen, habe aber nur 500 Megabeat Herzschlagkontingent.
Abstriche mache ich dann meist bei mir selbst:
Ich wäre gern noch liegen geblieben
und hätte das Geschenk gern mit ausgesucht,
hätte diesmal gern endlich die Eltern kennengelernt oder auf der Party mitgeknutscht.
Und meine Partner*innen so:
Sie hätten mich gern dabei gehabt, wenn der Hund beerdigt wird,
hätten mir gerne bei der Präsentation geholfen,
hätten gern einfach mal das Gefühl, ich bleibe heute für immer.
Natürlich gibt es Beziehungskonstrukte, in denen das kaum ins Gewicht fällt, weil allesamt so committet und selbstbewusst sind, dass sie sich im Kreis und querbeet lieben können und viel Zeit zu dritt, viert, fünft geliebt werden kann – aber die meisten halten es doch so, dass sie ein bis zwei Hauptpartner haben und sich kleinere Liebesgeschichten nebenher dazukuscheln, ohne dass sich die Liebsten besonders viel begegnen.
Dadurch entstehen Liebeshierarchien – vielleicht nicht in den Köpfen der überzeugten Polyamoristen, aber sicherlich in den Herzen der vielleicht etwas weniger abgeklärten Polys.
Dadurch entstehen Liebeshierarchien – vielleicht nicht in den Köpfen der überzeugten Polyamoristen, aber sicherlich in den Herzen der vielleicht etwas weniger abgeklärten Polys, die sich zwangsweise über kurz oder lang immer irgendwie dazumogeln.
Leuten, die bisher monogam unterwegs waren und sich fragen, ob sie polyamor leben könnten, erzähle ich gern vom „Haustürschmerz“, wie ich ihn für mich selbst getauft habe: An einem Sonntagmorgen wachst du neben einer*einem deiner Liebsten auf, es ist eine schöne Nacht gewesen – kurz, aber lustvoll.
Ihr habt wenig geredet, dafür viel getrunken, und du löst dich sanft aus dem Kuschelgriff im Bett, um aufzustehen und dich fertig zu machen, denn um 10:03 geht dein Zug in Richtung einer der sekundären Beziehungen. Verschlafen gibst du alles, um deinem letzten Kuss für deine*n Liebste*n besonders viel Liebe und Hingabe zu verleihen, schreibst noch eine Notiz auf den Kaffeefilter – dann schleichst du zur Tür.
Sie ist gerade auf, aus dem Treppenhaus schlägt schon die kühle Luft in dein Gesicht, da hörst du sie/ihn am Ende des Flurs im Türrahmen stehen und etwas sagen wie: „Babe, ist das, was wir haben, eigentlich nur Spaß?“ oder „Wann kommst du eigentlich wieder?“ oder „Wenn ich ehrlich bin, geht’s mir schlecht damit.“
Du denkst: Fuck, was liebe ich dich aus vollem Herzen und denke den ganzen Tag an dich. Aber du sagst: Es tut mir leid, ich muss los, Baby, ich ruf dich später an, ja? Alles cool.
Und dann ist da auf einmal das Treppenhaus auf der einen Seite und der Türrahmen vorm Schlafzimmer auf der anderen und der Flur dazwischen ist ein riesiger Abgrund. Du fühlst dich sofort angeschossen und denkst: „Fuck, was liebe ich dich aus vollem Herzen und denke den ganzen Tag an dich und das Vögeln ist eine Konsequenz meines Wahnsinns zu dir!“ – Aber stattdessen sagst du: „Es tut mir leid, ich muss los, Baby, ich ruf dich später an, ja? Alles cool.“
Da drüben, am Türrahmen, da steht ein Mensch, der dir sehr nahe steht, dessen Geruch du noch an deinen Haaren hängen hast, der sich dir gerade mit festem Blick verletzlich zeigt, wunderschön und ehrlich … Aber der Zug, der fährt um 10:03, und wenn du nicht drinsitzt, brichst du ein Versprechen.
Also wenn du dich fragst, ob du polyamor leben könntest, frag dich nicht, ob du die Bilder im Kopf von der*dem Liebsten im Bett mit jemand anderem ertragen oder ignorieren könntest, sondern frage dich, welche Ansprüche du an gemeinsame Zeit, Themen und Lebensräume stellst.
Und selbst wenn du einen Schlüssel von seiner*ihrer Wohnung hast, bist du vielleicht nicht immer willkommen.
Wenn er*sie um 23:00 erst zu dir kommt, wird er*sie schon woanders gegessen haben. Und selbst wenn du einen Schlüssel von seiner*ihrer Wohnung hast, bist du vielleicht nicht immer willkommen.
Polyamorie hat für viele mit ultimativer Ehrlichkeit sich selbst und den anderen gegenüber zu tun, doch dazu zählt eben auch das Abstellen seiner eigenen Ansprüche an gesellschaftliche Konventionen: sexuelle Treue, eine gemeinsame Wohnung, gemeinsame Finanzen oder Kinder.
All diese Dinge kann es in einer polyamoren Beziehung natürlich geben, aber sie brauchen immer sehr viel mehr Verhandlung, Auseinandersetzung, Vorstellungskraft, Willen und Motivation, als es in einer Zweierkonstellation üblich ist. Sobald du dich mit „polyamor“ labelst, trägst du eine extrem große Verantwortung dir selbst gegenüber.
Ohne sehr offene und angstfreie Kommunikation mit dir, deinem Partner und dem Partner deines Partners wirst du anfangs wohl öfter auf die Schnauze fallen, als glitzernd hedonistische Nächte am See zu verbringen.
Ich begann, mein iPhone zu hassen, weil es zu einer Büchse der Pandora wurde.
Ich begann, mein iPhone zu hassen, weil es zu einer Büchse der Pandora wurde: Paul ist sauer, weil ich immer noch nicht geantwortet habe, ob das was mit Samstag wird. Bisher konnte ich darauf nicht antworten, weil Cora schon wieder sieben Minuten lange Sprachnachrichten hinterlässt und, achja, wenn ich Cora die Fotos von meinem neuen Büro zeigen will, muss ich daran denken, die Selfies von mir und Lisa zu überspringen. Schlimm genug, dass sie gestern gerade anrief, als ich mich bei Georg nackt machte, und ich ja drangehen musste, weil sie mir sagen wollte, ob das neue Date zu einer neuen Beziehung geworden ist oder nicht (und ehrlich gesagt, hoffte ich, dass nicht).
Für mich änderte sich schlagartig vieles, als meine Tochter zur Welt kam. Ich visualisiere immer noch diese unbegrenzte Liebe in mir und möchte die Idee nicht loslassen, aber was mir in die Quere kommt, ist das Wort: Bindung. Bindung zu einem Menschen, seinen Gefühlen, seinen Sehnsüchten und Ängsten.
Ich hab sie nicht kapiert, bis mir ein kleiner Mensch zeigte, was bedingungslose Liebe ist. Seitdem erscheinen mir meine früheren polyamoren Geschichten banal, meine Sucht nach emotionaler Freiheit eine Farce.
Anzahl meiner Beziehungen heute: eine.
Tendenz: erfreulicherweise stagnierend.
Headerfoto: Helena Lopes via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!