Lass laufen: Ich weine, wenn ich weinen muss

Sensibelchen ist mein zweiter Vorname, Heulsuse mein Spitzname – hi, ich bin das enfant terrible unter den Gefühlskaspern. Gegen das überschwängliche Heulen zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit habe ich eine Taktik: Ich stelle mir vor, wie ich am Strand liege und mir von der Sonne nette Tan Lines verpassen lasse.

Das hilft mir, mich nicht völlig in den Bach der Emotionen fallen zu lassen. Klingt absurd – und das ist es auch.

Bei Wikipedia lese ich: „Weinen ist ein unspezifischer emotionaler Ausdruck, welcher der Mimik zugeordnet wird und oft, aber nicht immer, mit Tränenfluss einhergeht. Weinen ist nicht an eine bestimmte Emotion gebunden und kommt nicht nur bei Schmerz, Trauer, Angst oder Ärger vor, sondern auch bei Freude.“ Wikipedia weiß Bescheid.

Menschen, die Zeuge meiner Überschwänglichkeit werden dürfen, sind nicht immer amused über ihre Teilhabe daran.

Dass Wikipedia dies allerdings als Allgemeinwissen – powered by the Internet – präsentiert, hilft leider nicht dagegen, dass Menschen, die Zeuge meiner Überschwänglichkeit werden dürfen, nicht immer amused über ihre Teilhabe daran sind. Die meisten sind peinlich berührt, fühlen sich unwohl und überfordert.

Um eines klarzustellen: Ich weine nicht, wenn Deutschland gegen Korea aus der Weltmeisterschaft fliegt. Ich weine auch nicht, wenn ich meine Arbeit vor Kollegen und Vorgesetzten verteidige. Ebenso wenig weine ich, wenn mich Männer behandeln wie einen gezuckerten Karamellapfel.

Aber ich weine, wenn mir Freundinnen sagen, dass ich sie verletzt habe. Ich weine bei der kleinsten Diskussion mit meinem Papa, bei absolut jedem Abschied und ich weinte, als Harry und Meghan geheiratet haben. „Harte Schale, weicher Kern“, heißt es. „Außen Tan Lines, innen vier Jahre alt“ – das ist meine Version davon.

„Du bist too much“. Diese Worte bilden die vier Mauern meiner hart erarbeiteten Contenance. Stein für Stein errichtet von jedem Freund, Fuckboy und jeder Affäre, die augenrollend die Flucht ergriffen, als wäre mein Leben ein Drama, aufgeführt von einer Diva auf großer Bühne. Und statt Applaus gab es anschließend leere Plätze.

Anfangs hatte ich Schuldgefühle. Zu emotional, zu aufbrausend, natürlich sind andere da überfordert.

Anfangs hatte ich Schuldgefühle. Zu emotional, zu aufbrausend, natürlich sind andere da überfordert. Aber ich konnte es nicht abstellen, nur schlecht kaschieren. Gefühle sind eben Gefühle. „Ich bin nicht meine Gedanken, ich bin nicht meine Gefühle“ – Fortgeschrittenen-Level in der Mediation.

Und trotzdem sind sie überwältigend, fühlen sich an wie ein ekeliger Kloß in der Kehle, während einer Erkältung. Man soll sich zwar nicht über seine Gedanken und Gefühle definieren, aber meine Gefühle definieren meinen Charakter. Und es gäbe nichts auf der Welt, das richtiger wäre als das.

Ich bin empathisch, ich fühle gerne mit anderen mit. Ich bin verletzlich, weil ich mein Herz für alles offen ist. Ich bin temperamentvoll, weil mir Dinge wichtig sind.

Ich bin empathisch, ich fühle gerne mit anderen mit. Ich bin verletzlich, weil mein Herz für alles offen ist. Ich bin temperamentvoll, weil mir  Dinge wichtig sind. Aber vor allem bin ich liebevoll. Und ich sage das so, wie ich es meine: voller Liebe.

Auf der To-do-Liste eines emotionalen Menschen steht never ever: Bekomme Deine Gefühle in den Griff, damit sich Dein Gegenüber nicht unwohl fühlt. Nein, da steht: Jedes Gefühl hat seine Berechtigung und will gefühlt werden. Also amte ein, fühle, lass laufen und komm klar. Sei das enfant terrible der Gefühlskasper. Große Diven haben nicht umsonst den Ruf einer Ikone.

Headerfoto: Kinga Cichewicz via Unsplash.com. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür.

COCOLORES, befindet sich gerne auf Reisen, in der ein oder anderen Ausstellung oder im Gefühlsgewühl zwischen Küchenpsychologie und Datingphilosophie. Mit einer gesunden Hassliebe für die Befindlichkeiten und Wehwehchen ihrer Generation und ganz viel Love für Herzkasper – been there, done that. Steckt man halt so drin.

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