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Über Sucht und Gewalt in der Beziehung gibt es gefühlt 100 Vorurteile. Zumindest in meinem Kopf herrschte lange die Annahme, dass mir das mit Sicherheit nie passieren würde. Ich komme aus einem relativ behüteten Haus, studierte Gender Studies und schrieb als freie Autorin für einige bedeutende Onlinemagazine. Ich arbeitete während meiner Studienzeit für die studentische Sozialberatung, in der wir oft auch die erste Anlaufstelle für Betroffene waren.
All diese Erfahrungen nützten mir allerdings herzlich wenig, als ich vor einigen Jahren um vier Uhr morgens meinen Freund in seiner Wohnung von seinen vollgepinkelten Klamotten befreite, während er mich mit den schlimmsten Schimpfwörtern belegte und nach mir trat. Beim ersten Mal konnte ich nicht glauben, was da gerade passierte. Ich nahm es auch nicht richtig ernst. Eine Ausnahme dachte ich, Liebe hält so etwas aus. Leider gab es auch für uns, so wie in den meisten Fällen, kein Happy End.
Unsere Liebe war nicht stärker als seine Drogen- und Alkoholsucht und ich konnte ihn nicht retten. Ich konnte nur mich selbst retten.
Wir waren nicht die eine Ausnahme, wir waren nicht stärker als seine Drogen- und Alkoholsucht und ich konnte ihn nicht retten. Ich konnte nur mich selbst retten. Er feierte gerne und war bekannt für seine ruppige, aber auch liebevolle Art. Er war unglaublich loyal seinen Freunden gegenüber und immer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Niemand wusste, was zu Hause hinter verschlossenen Türen passierte.
Niemand wusste, dass er mindestens einmal in der Woche von der abendlichen Gassirunde mit unserem Hund nicht zurückkam. Er ging mit dem Hund direkt in eine Kneipe oder sogar auf Partys und kam erst gegen Morgengrauen zurück. Der Hund war dann völlig verdreckt und verstört und wurde zunehmend aggressiv. Sobald er dann wieder nach Hause kam, spulte ich mechanisch mein Programm ab: ausziehen, waschen, ausweichen. Oft erkannte er mich gar nicht, hielt mich für seine Mutter oder sagte mir, dass er mich hasste.
Ich ging oft. Alle paar Monate beendete ich die Beziehung, wir sahen uns dann immer einige Wochen oder Monate nicht und ich versuchte, ihn irgendwie zu vergessen. Natürlich landete ich immer wieder bei ihm, denn ich befand mich in einer klassischen Co-Abhängigkeit. Sagte ich schon, dass er wahnsinnig charmant sein konnte?
Deine Sucht ist meine Sucht
Co-Abhängigkeit, was ist das eigentlich? Selbst als ich selbst betroffen war, wusste ich nicht so richtig, was ich unter diesem Begriff zu verstehen habe. Es klingt irgendwie nach Komplize, nach gemeinsamer Sache, aber so ist das ja nicht!
Ich durchlebte die typischen Phasen der Co-Abhängigkeit und merkte es nicht einmal. Meine Intentionen waren immer die besten, aber gleichzeitig auch klassische Merkmale einer Co-Abhängigen: Ich wollte meine eigenen Probleme vergessen und habe mich daher auf die andere Person fixiert. Gleichzeitig habe ich natürlich sehr gelitten und war unglücklich, aber leider war ich sehr lange nicht in der Lage, mich aus dieser Situation zu befreien. Als ich es schlussendlich doch tat, hatte ich so ein schlechtes Gewissen, dass ich eine chronische Krankheit bekam, die es mir fast unmöglich machte zu arbeiten.
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Beschützerphase
Zuallererst wollte ich ihn beschützen. Ich sprach mit niemandem über sein Problem, kümmerte mich um ihn, wenn er völlig von Sinnen nach Hause kam und streichelte ihm stundenlang am nächsten Tag den Kopf, wenn er weinte, weil er sich an nichts von dem erinnern konnte, was er mir in der Nacht zuvor angetan hatte. Ich hatte Mitleid mit ihm und dachte wirklich, dass wir es schaffen können, wenn ich nur ganz super krass mega doll lieb zu ihm sei. Er war ein kluger Kerl, so viel schlauer als alle anderen, IQ von 145, so einer zerbricht nicht am Alkohol und an den Drogen.
Kontrollphase
Wenn er am nächsten Tag seinen Pflichten nicht nachkommen konnte, sorgte ich für ein Alibi. Ich kümmerte mich darum, dass er ordentlich aß, auch wenn das schwer war, denn er war ein Dickkopf, der Fast Food und Fleisch liebte. Wenn er sich einen Salat machte, musste ich ihn im Gegenzug sehr loben. Bald beschwerte er sich über Schmerzen in der Brust. Auch das verriet ich niemandem, ich versuchte nur immer wieder, ihn zum Arzt zu schicken oder ihm Quinoa unters Steak zu schummeln.
Anklagephase
Je öfter ich bei ihm auf Granit biss, desto wütender wurde ich. Desto mehr hasste ich ihn. Ich fühlte mich wahnsinnig hilflos, da die Lösung doch so einfach schien, er aber all meine Bemühungen abblockte. Ich hasste ihn dafür und machte regelmäßig mit ihm Schluss. Irgendwie hat es sich aber nie ganz endgültig angefühlt. Es war eine Abwehrhaltung, weil ich mich so wahnsinnig hilflos gefühlt habe. Ich wollte ihn verletzen, weil er mich so sehr liebte und mir gleichzeitig all diese schlimmen Dinge antat.
Wir schaffen das – nicht
Irgendwann wurde mir klar, dass ich endgültig weg musste. Sein Zustand verschlimmerte sich kontinuierlich, er sah nicht gesund aus und verhielt sich mir gegenüber zumeist gleichgültig. Er betrog mich, ich konnte nicht mehr. Drei Jahre lang hatte ich alles gegeben, ihn geliebt, gehasst, mich um ihn gekümmert. Ich hatte es geschafft, damals in Portugal bei unserem Urlaub, neben ihm einzuschlafen, nachdem er mich halb im Schlaf, halb wach, gewürgt und mir mit der Faust auf den Brustkorb geschlagen hatte. Ich hatte es geschafft, bei ihm zu bleiben, wenn er mich wochenlang ignorierte, aber trotzdem von mir verlangte, dass ich jeden Tag bei ihm sein solle. Ich habe versucht, ihn zu verjagen, indem ich gemein zu ihm war, weil ich es aus eigener Kraft nicht schaffte zu gehen.
Drei Jahre lang hatte ich alles gegeben, ihn geliebt, gehasst, mich um ihn gekümmert.
An einem Tag im März ging ich. Ohne Ansage, ohne es vorher geplant zu haben. Ich rief meine Mutter an, sie kam und sprach ein Machtwort. Totaler Kontaktabbruch. Wir brachten den Hund in das Büro von meinem nun Ex-Freund und ich blieb mehrere Tage bei meiner Mutter und weinte bitterlich. Ohne die für sie eigentlich untypische Strenge hätte ich es nicht geschafft. Ohne sie hätte ich knappe fünf Monate später, bei seiner Beerdigung, neben seinen Eltern gestanden und nicht ein paar Reihen weiter hinten, wo mich niemand weinen sehen konnte. Ich wäre wahrscheinlich dabei gewesen, als er einen Herzinfarkt erlitt und starb.
Der lange Weg aus der Co-Abhängigkeit
Mit dem Tod meines Ex-Freundes war die ganze Sache aber noch nicht vorbei. Ich machte mir schreckliche Vorwürfe, weil ich ihn verlassen hatte. Ich bekam Panikattacken und schwere Depressionen, die mich so sehr einschränkten, dass ich nicht mehr unter Menschen gehen konnte. Es war wieder meine Mutter, die ein Jahr nach seinem Tod meinte, ich müsse etwas ändern. Ich ging für drei Monate in eine Klinik für Psychosomatik und danach weiterhin zweimal die Woche zur ambulanten Therapie. Ich will nicht lügen, der Weg aus der Co-Abhängigkeit ist hart und sehr schmerzhaft, aber er muss sein.
Hier findest du mehr Informationen rund ums Thema Co-Abhängigkeit.
Headerfoto: Frauensilhouette (Stockfoto) via Cindy Goff/Shutterstock. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür.
Danke für diese Zeilen, Kim. Ich wünsche dir alles Gute und dass du gesund wirst.