Ich schaue auf den Kalender.
Der heutige Tag ist dick markiert.
Es war unser Tag.
Er sollte sich in meinem Gedächtnis verankern.
Denn heute ist unser Jahrestag.
Doch unserer Beziehung war dieser Tag egal – das „Wir“ hat diesen Tag nicht überstanden.
Und so wird dieser Tag, der so viel Bedeutung für mich haben sollte, ein Tag mit s oviel Wehmut, voller Erinnerungen und schmerzvoller Trauer.
Ich laufe zur Arbeit, wie jeden Tag, doch der Gang fällt mir heute schwerer als sonst.
Die Melancholie und deine Abwesenheit hängen wie Blei an meinen Füßen und erschweren jeden meiner Schritte.
Der Frost lässt die Straßen glitzern und die Luft tut weh beim Atmen.
Mir ist kälter, als es sein sollte.
Als ich die Arbeit betrete, fühle ich mich erleichtert, denn die Realität schlägt mir ins Gesicht.
Keine Zeit zum Nachdenken, kein Platz für Trauer.
Hier muss ich funktionieren, agieren, immer lächeln.
Die Fragen meiner Kollegen sind schnell abgetan, der Dienst tut gut und ist viel zu schnell vorbei.
Der Heimweg ist genauso eisig wie am Morgen.
Ich laufe vorbei an dem Kiosk, in dem wir Zuflucht vor der Kälte suchten und uns bei einem Mate-Drink unterhielten.
Über die Brücke, von der aus man die Stadt überblicken kann – meine Stadt.
Ich biege in meine Straße ein, auch sie ist voller Erinnerungen an dich.
Vorbei an dem Tattoo-Studio, in dem ich deine Qualen begleitet hatte – ich muss lächeln bei dem Gedanken.
Zurück in meine Wohnung, endlich zuhause – alleine.
Auch meine Wohnung ist voll von dir.
Eine halbe Ewigkeit sitze ich da und starre die Wand an.
Eine Träne bahnt sich ihren Weg.
Ich beschließe, einen anderen Weg einzuschlagen – über die Straße, in die kleine Bar, in die du mich damals geschleift hattest, entgegen meiner Widerworte, um das „Wir“ zu feiern.
Mittlerweile kennt man mich, denn ich habe seither viele Nächte dort verbracht.
Die Gesichter sind mir fast alle bekannt und vertraut.
Man kannte „Uns“ und jeder wusste, dass wir eine Einheit waren.
Doch heute sitze ich hier alleine.
An dem Tisch, an dem wir so oft saßen.
Trinke das Bier, das mir damals gänzlich unbekannt war und inzwischen zu „Das Gleiche wie immer?“ geworden ist.
Es ist 22 Uhr und im Hintergrund läuft unser Lied.
Das Bier schmeckt nicht mehr, der Song klingt schief und die Gesichter, die mir normalerweise so vertraut sind, wirken fremd.
Alles, was uns verband, ist nun hier vereint.
Nur eines fehlt – du!
Anstatt mit dir unseren Jahrestag zu feiern, betrauere ich ihn alleine.
Ein paar Minuten lang hänge ich gedanklich den Erinnerungen hinterher.
Dann blicke ich ihm in die Augen.
Er schaut mich etwas besorgt an, ohne Fragen zu stellen, so wie die letzten Monate.
Er hält meine Hände, gibt mir wortlos zu verstehen, dass er für mich da ist, dass alles gut wird.
Er gibt mir so viel, ohne etwas zu erwarten.
Er sitzt auf dem Platz neben mir, an dem du sitzen solltest …
Doch es ist jetzt sein Platz.
Meine Trauer wirkt surreal, denn es gibt keinen Grund, traurig zu sein.
Denn an meiner Seite sitzt er …
Mein Vertrauter, mein bester Freund durch all diese Zeit.
Und seine Frage klingt so vielsagend, vertraut und eindeutig wie meine Antwort:
„Meins?“ – „Ja, DEINS!“
Und so wird unser Jahrestag ein endgültiger Abschied von dir und ein grandioser Neuanfang für mich mit einem wundervollen Menschen an meiner Seite …
Headerfoto: Frau unter Wasser via Shutterstock.com! („Gedankenspiel„-Button hinzugefügt.) Danke dafür.