Schietwedder – Für sich und fürwahr | Teil 3

Dies ist Teil 3 einer vierteiligen Geschichte. Teil 1 findest du hier. Teil 2 findest du hier.

Er biegt ab zur Seebrücke, um sich eine Regenjacke zu kaufen. Sie nimmt die andere Richtung nur aus dem Impuls heraus, allein sein zu wollen. Sie folgt dem Teer, findet Sand und dann das Meer. Der bedeckte Himmel konnte den Strand nur oberflächlich trocknen. Zwei Körperlängen von der müden Brandung entfernt zieht sie eine Plastiktüte aus der Tasche und setzt sich in zwei Mulden aus Schuhspuren, die ihrem Po schmeicheln. Sie beäugt passierende Seniorenpaare in unverschämt gleichfarbiger Outdoorkleidung.

Im Herbst gibt es an der Ostsee nur Menschen mit schweren Gedanken oder schwerer Atmung. Mit einem Blick, der so weit hinaus aufs Meer wie tief in ihre Gedanken führt, hinterfragt sie den Anfang einer nahenden Welle und ihre Geschichte. Sie fühlt sich wohl so allein. Das war sie lange nicht. Da bleibt kaum Platz für die eigenen Gedanken, die sie aufmerksam beobachtet:

„Weg vom Lärm, der dicken Luft, vom Hundekot und den repräsentativen Projekten. Weg von der Eile. Weg vom Verpassen. Weg vom prallen Leben. Mein ganzes Sein ist ziellos geworden. Ich habe mich in der Masse der Möglichkeiten verlaufen und bin dann einfach sitzen geblieben. Meine Unentschlossenheit hat meine Besonderheit verdünnt. Mein Glanz wirkt stumpf.

Das passiert, wenn die Erfahrung die Erwartung einholt. Darum schienen Erwachsene auch immer so traurig. Erwachsen. Das bin ich wohl. Dass ich das sage, erwartet man von mir. Ich, jedoch, bin noch nicht bereit.

Ich habe schon kleine Falten unter den Augen. Falten stehen eigentlich nur Männern wie Anthony Hopkins. Wir haben keine Ähnlichkeit. Die Werbung findet Altsein auch scheiße. Altwerden sei normal, sagen die, die es noch nicht sind. Meine Oma wäre auch lieber jung.

Nächstes Jahr werde ich fünfunddreißig sein. Fünfundfuckingdreißig. Scheiße, Mann! Das ist richtig scheiße alt. Dreißig war schon krass, aber dann plötzlich unerwartet befreiend. Aber fünfunddreißig? Meine Mutter hatte da bereits zwei Kinder und einmal Krebs. Das war wirklich furchtbar, aber trotzdem irgendwie dem Alter entsprechend, wenn man der Statistik glauben darf.

Ich habe nur so viel Eigentum, wie ich tragen kann und einen Freund, der unhaltbar wird. Vor der Dreißig warnt sogar der Straßenverkehr. An die Fünfunddreißig denkt keiner. Achtung! Ab jetzt sind Fehler so richtig verboten! Gesonderter Verantwortungsbereich! So erwachsen macht man als gesellschaftskonforme Bürgerin keine Fehler mehr. Die, die sie doch machen, schweigen vermutlich darüber und da sich niemand mehr für sie interessiert, kommen sie damit durch. Fallen sie doch auf, fragt man sich unweigerlich, was da eigentlich schief gegangen sei.

Ich habe weder genug Geld, Vokabular und Versicherungen, um fünfunddreißig zu sein.

Es wird sich sicherheitsbewusst angeschnallt. Man freut sich über ein Kinderlachen und lacht selbst nicht mehr wie eins. Da steht man mit beiden Beinen im Leben und nicht knietief in der Scheiße. Ich habe weder genug Geld, Vokabular und Versicherungen, um fünfunddreißig zu sein.

Eigentlich ist man dann doch schon tot, wenn ich meinem Tagebuch der fünften Klasse glauben darf. Das ist nur noch das Zucken der Nerven an Festtagen zum Soundtrack der Jugend. Mit unerwartet vielen Synthesizern. Schwindende Sehstärke und unkontrolliertes Pupsen sind kein temporäres Problem mehr.

Tausche Weisheit gegen Cellulite – was für ein mieser Handel! Selig sind die Dummen mit straffer Haut. Ich finde, ich habe Anerkennung dafür verdient, schon so weit gekommen zu sein. Herzlichen Glückwunsch, liebe Biomasse: keine großen Unfälle, keine diagnostizierten Psychosen. Vielleicht ein bisschen neurotisch, aber das ist bei kleinen Frauen doch immer charmant.

Es folgt nun Level zwei: Erwachsensein für Fortgeschrittene. Und dann kommt ein großer sprechender Frosch mit Umhang wie bei der Sega-Spielekonsole meiner Kindheit und sagt mir, was ich machen soll …! Bitte!!! Frosch …? Frosch …! Prinz? Quark! Mein Prinz ist ein Frosch. War der schon immer einer und habe ich ihn erst jetzt richtig kennen gelernt?

All die Jahre! All die Jahre umsonst? Das kann man doch nicht einfach wegschmeißen! Schließlich weiß ich ja, warum er ist, wie er ist. Und er kann auch anders. Er ist ja auch nur ein Opfer seiner Vergangenheit. Aber muss ich das wirklich aushalten und auf ewig bearbeiten?

Manchmal funktionieren wir durchaus gut. Aber das ist selten geworden und passiert eigentlich nur noch an Feiertagen und als einstudierte Darbietung vor Leuten, um den Schein zu waren. Wie oft kann man sich wiederfinden? Wie oft sollte man sich überhaupt suchen? Ab wann ist die Hoffnung auf Glück ungesünder als die schmerzliche Entscheidung zur Vernunft? Sitze ich im goldenen Käfig?

Ich bin es leid, mich in jeder Diskussion im Kreis zu drehen, bis mein Vorwurf auf meine angeblich übertriebene Sensibilität zurückgeführt wird. Immer und immer wieder. Die Guten sind immer sehr emotional! Ich finde seinen verächtlichen Ton manchmal sehr erschreckend. Liebe klingt anders. Ich klinge anders. Eine Beziehung fühlt sich irgendwann so zerteilt an wie das Bett, in dem man schläft. Und doch macht man es jeden Morgen neu.“

Das Dunkelblau des Himmels drückt auf das Grau des Meeres wie ihre Gedanken auf ihre Beziehung. Sie steht auf, schüttelt die Plastiktüte aus und geht dann in Richtung Kiefernwald, anschließend zurück zur Brücke.

Er wirft seine Angel aus, lehnt sich dann gemütlich zurück. Sein Campingstuhl quietscht in einem Ton von früher. Seine organisierte Entspannung wird mit schlechtem Gewissen beschmutzt. Er jongliert mit Szenarien, die er für sich wollte, die hätten sein können oder so sein mussten.

Gleich nachdem er sich eine Zigarette anzündet, fragt ihn eine Frau nach Feuer. Er baut einen Windschutz mit seiner linken Faust und hält ihr die tanzende Flamme hin. Sie streicht sich ihre Haare hinter ihr Ohr und richtet sich mit dem ersten Leuchten der Glut auf.

„Die ist heiß!“, denkt er. „Wie alt mag sie sein? Ende zwanzig? Die ist sicher noch entspannt. Vielleicht angelt sie sogar …? Bei der sagt keiner „Nein!“ Bin ich ein Arschloch? Das darf man doch denken? Meine Gedanken kontrolliert sie jedenfalls noch nicht. Ich mach doch schon alles! Genug ist nicht genug.

Was wäre, würden wir uns trennen? Die Wohnungsauflösung … oh Gott! Keinen Bock auf Einraumwohnung!

Ich kann doch nicht nur arbeiten und Freund sein. Wo bin ich da noch? Sie hat ihre Macken – und was für welche, meine Fresse – aber sie ist ein guter Mensch. Aber ist sie wirklich mein Mensch? Aber was wäre, würden wir uns trennen? Die Wohnungsauflösung … oh Gott! Keinen Bock auf Einraumwohnung! Und überhaupt: Das ist unser Leben! Wie könnte ich das auflösen? Das löst sich doch nicht einfach auf!

Aber der Sex …? Der Sex war wirklich mal besser. Wann mag sie das letzte Mal gekommen sein? 2013? Auf jeden Fall war sie betrunken. Das kann ihr doch auch nicht gefallen? Ob sie einen anderen hat? Quatsch! So eine ist sie nicht. Ich ja auch nicht. Nutten zählen nicht …! Das ist doch alles scheiße!“

Die junge Frau steht noch immer rechts von ihm. Sie lächelt. Er lächelt zurück. Es zuckt an der Angel. Ruhig lehnt er sich vor, wartet kurz, zieht dann einmal an und dreht dann schnell die Spule auf. Ein kleiner silbern blinkender Hering springt auf der Wasseroberfläche auf und ab. Sie applaudiert. Er winkt ab und sagt: „Der geht wieder zurück ins Wasser. Der lohnt nicht.“ Kurz darauf ist der Fisch wieder vom Haken und verschwindet in der Tiefe.

Sie beäugt ihn interessiert.

„Netter Typ irgendwie. Sieht ja ganz gut aus. Kein Ring. Niemals schwul. Hätte er eine Freundin, dann würde er jetzt sicher nicht angeln. Zu dieser Zeit kommen selten gute Männer auf die Insel. Eigentlich kommen nie gute Männer auf die Insel. Die einen reisen mit ihrer Familie und die anderen ohne feste Absichten. Aber ein bisschen Sex wäre auch mal wieder nötig – auch wenn gerade nicht „Saison“ ist.

Der sieht nicht so aus, als hätte er Lust. Normalerweise sind die meisten Männer interessierter. Er könnte sich etwas mehr pflegen, aber gute Schuhe. Ich hätt schon Lust …! Aber soll ich jetzt den ersten Schritt machen? Ich bin nicht betrunken. Diesen Korb würde ich nicht vergessen. Aber was soll‘s. Von der Insel ist der nicht – den sehe ich nie wieder!“

Sie: „Ey, du! Ich hoffe, ich bin nicht all zu aufdringlich, aber hast du vielleicht Lust, mit mir was trinken zu gehen?“
Er: „Ich fühle mich wirklich geschmeichelt und wären Zeit und Ort anders, hätte ich sicher auch ja gesagt. Aber weißt du, ich will wirklich einfach nur angeln.“
Sie: „Nichts für ungut. Wenn du fertig bist mit Angeln, kannst du ja die hier nutzen, wenn du magst.“

Sie hält ihm ihre Visitenkarte hin. Er zögert, verzieht die Mimik zum mitleidsvollen Blick, um dankend abzulehnen, nimmt sie dann aber doch.

Er: „Vielleicht mache ich das.“

Sie linst ein letztes Mal, bemüht sinnlich, durch ihre Haare, die der Wind in ihr Gesicht weht, verabschiedet sich mit einer kleinen Welle ihrer rechten vier Finger und bemüht sich dann, ihren Gang bis ans Ende der Brücke stolz und einladend zum perfekten Abgang zu gestalten.

Bis sie als kleiner Punkt am Horizont verschwindet, verrenkt er sich immer wieder den Hals nach ihr und möglichen Beobachtern, die entweder neidisch oder eifersüchtig sein würden. Später geht er zurück in sein Zimmer, ohne sie anzurufen. Allein die Möglichkeit hatte ihm geschmeichelt.

Sie sitzt mit einem Schreibblock und Stift am Fenster. Beide werfen sich ein „Na?“ zu und belassen es dabei. Der Abend verläuft oberflächlich und endet Rücken an Rücken.

Dies ist Teil 3 einer vierteiligen Geschichte. Teil 4 folgt morgen.

Headerfoto: Stürmische Wellen via Shutterstock.com. Danke dafür! (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.)

MAKS FRAI wünscht sich Leser, die am Ende für sich lächeln.

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