Schietwedder – Schall und Rauch | Teil 2

Dies ist Teil 2 einer vierteiligen Geschichte. Teil 1 findest du hier.

Am Fenster stehend begutachtet er die meteorologischen Verhältnisse und beschreibt den Seewind, der das Land mit Dunst füttert, als „Schietwedder“. Sie gehen eine Runde durch das immer wieder um- und angebaute Hotel, das in seiner Summe wirkt wie ein welker Salat von heute, gestern und noch ein paar Tagen in der zukünftigen Vergangenheit ohne Kühlkette. Beide bemühen sich, glücklich und verliebt auszusehen und schauen einander darum möglichst wenig an.

Im Hotelrestaurant bestellt er klassisch Fisch. Sie isst vegetarisch. Sie drehen ihr Besteck zunehmend verlegen, bis das Silber Schlieren zieht, doch alsbald wieder poliert glänzt. Sie nippen stumm am Wasser aus der Leitung, bis das Essen schließlich auf ihrem Tisch erscheint. Nach einer halben Flasche Wein beginnt ein Gespräch, das länger anhält, als eine Auskunft dauert:

Er: „Was steht bei dir eigentlich morgen an?“
Sie: „Bei mir? Ach, weil du angeln bist?“
Er: „Ja, aber das dauert auch nicht den ganzen Tag. Ich hab doch nur gefragt …!“
Sie: „Aber du bist doch angeln! Es gibt am Ende der Strandpromenade einen alten Kiefernwald. Den wollte ich mir ansehen.“
Er: „Wir fahren ans Meer und du gehst in den Wald?“
Sie: „Na und? Wir haben Probleme und du gehst angeln!“
Er: „Also soll ich nicht angeln gehen?“
Sie: „Ich will dir nicht sagen müssen, was du wollen sollst.“
Er: „Also soll ich nicht?“
Sie: „Wer sagt das? Ich nicht. Geh angeln!“

Happs und Gedanke werden unzerkaut geschluckt.

Er: „Ich versteh dich einfach nicht. Es war doch total klar, dass ich hier angeln würde. Die ganze Zeit kein Wort von dir und jetzt machst du mir eine Szene?“
Sie: „Eine Szene. Wirklich? Eine Szene?“
Er: „Guck dich doch mal an: Du bist passiv-aggressiv!“
Sie: „Vorsicht, Sportsfreund! Das war jetzt aktiv destruktiv.“
Er: „Warum das nun wieder?“
Sie: „Das soll ich dir jetzt auch erklären? Du checkst es einfach nicht!“
Er: „Klar. Ich. Warum auch nicht? Vielleicht ist das das Problem: Vielleicht erklärst du dich zu wenig!
Sie: „Bitte? Ich hab mich erklärt wie ein Lexikon! Aber red mal mit ner Kuh Französisch …!“
Er: „Toll! Muttis Agrar-Rhetorik! Machen wir jetzt das ganze Wochenende so weiter?“
Sie: „Aktion. Reaktion.“
Er: „Ach, quitt pro quo? Auge um Auge …? Ist das unsere Beziehung?
Sie: „Na wenigstens sind wie fair!“

Sie lacht, verstummt, denkt nach.

Sie: „Nein, du hast ja Recht. Lass uns versuchen, eine gute Zeit zu haben.“
Er: „Versuchen, eine gute Zeit zu haben? Ist das so schwierig?“
Sie: „Merkste nicht?“
Er: „Vielleicht solltest du einfach eine rauchen gehen!“
Sie: „Du bist so ein Arsch! Das ist jetzt deine Erklärung für alles, oder? Bloß nicht reflektieren! Aber weißt du was? Das mache ich: Ich gehe eine rauchen! Penner!“

Sie nimmt sich eine Zigarette aus seiner Schachtel, fragt an der Bar nach Streichhölzern und verlässt das Restaurant. Über in Rage getätigte Beleidigungen ärgert sie sich immer mehr als er. Er schaut ihr nach und kann nicht anders als grinsen. Er findet, sie sei sehr dramatisch.

Anschließend kontrolliert er nachträglich, ein wenig geniert, die Gesichter der umliegenden Nachbartische, in der Hoffnung, niemand habe das Gespräch verfolgt. Allem Anschein nach sind alle mit sich selbst beschäftigt. Er denkt wieder ans Angeln und freut sich nun noch mehr darauf. Er angelt allein. Dreiste Möwen und hohe Wellen würden seine einzige Ablenkung sein. Er ist satt.

Mit Wind zerzausten Haaren kehrt sie zum Tisch zurück. Erst weicht sie seinem Blick aus, linst dann doch in seine Richtung und lächelt.

Er: „Hat‘s geschmeckt?“
Sie: „Wie ein Löffel Aschenbecher! Mir ist etwas schlecht. Hab mir trotzdem vorne eine Schachtel gekauft. Ich habe das Gefühl, die werde ich noch brauchen.“

Sie lacht wieder – aus Verlegenheit und auch von ihrer Provokation amüsiert.

Sie: „Lass uns die Flasche austrinken und dann zum Wasser gehen!“

Er nickt, gießt die Gläser kultiviert halbleer voll und legt seine Hand auf ihre.

Er: „Wusstest du, dass Rauchen eine orale Ersatzbefriedigung ist?“

Ihre Augen rollen.

Sie: „Wusstest du, dass dieser Spruch niemanden motiviert?“

Die gelebte Erinnerung an frühere neckische Wortgefechte verdünnt die Sprachlosigkeit des Tages. Bis sie ihren Tisch verlassen, beginnen sie ihre Sätze mit einem kokettierenden Blick und dem Vorsatz zur Vorsicht. Hinter dem Ausgang legt er seinen Arm um sie und sie den ihren um seine Hüfte. Beiden ist diese Geste der Verbundenheit fremd geworden.

Beiden fällt das auf. Doch auch der Regen pausiert wie der Wille, Recht zu behalten. Die Wut wird vom Wind hinfort getragen. Die Zweifel und Vorwürfe vergehen wie der Zenit jeder Welle. Ein angenehmes Schweigen erfüllt den Moment und beide gehen friedvoll über den regennassen Sand bis zum ausgeschilderten Hundestrand und biegen dann ab auf die bequeme, betonierte Promenade mit ihren blitzblank sanierten Villen.

Sie weiß bereits, was kommen wird: er. Nur er. Sie rasiert sich trotzdem jede Woche.

Im orangen Licht der Nachttischlampe liest sie die letzten Zeilen des Kapitels, knipst den Lichtschalter in die andere Richtung, rückt ihren Oberkörper weiter nach unten und starrt in eine ungewohnte Dunkelheit ohne Stadt. Er dreht sich in ihre Richtung, legt seinen Arm um sie. Sie weiß bereits, was kommen wird: er. Nur er. Sie rasiert sich trotzdem jede Woche.

Sie lässt ihn kommen und verschwindet dabei, denn dieser Akt ist zur letzten Tradition einer vergangenen Zeit geworden. Zur Sentimentalität. Zu oft Rücken an Rücken wach gelegen. Zu oft gewartet. Zu oft gehofft. Zu oft gewünscht. Zu oft getäuscht und noch öfter gezweifelt. Zu oft geweint. Und doch nie oft genug.

Dieser einfache Ausdruck des Begehrens, und ist er auch nur rein körperlicher Natur, der kaum länger dauert als ein Streichholz verbrennt, ist ihr der Anker, der sie hält und gleichsam der Haken, an dem sie hängt. Dabei sind die Gewässer, in denen diese Beziehung unlängst dümpelt, so seicht, dass sie dauernd Leck schlägt. Doch kentert sie nicht. Sie ist ein Geisterschiff und die Erinnerung ein Leuchtturm, der am Anfang thront, nutzlos für andere Ziele.

So bleibt auch immer die Hoffnung, das Warten, das Wünschen, das Täuschen und Zweifeln. Nur das Weinen wird weniger. Doch noch ist weniger nicht genug. Diese Nacht liegt nackt von Konsequenzen. Es gibt keinen Wecker. Es fehlt eine Deadline.

Dies ist Teil 2 einer vierteiligen Geschichte. Teil 3 findest du hier.

Headerfoto: Gewitter über dem Meer via Shutterstock.com. Danke dafür! (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.)

MAKS FRAI wünscht sich Leser, die am Ende für sich lächeln.

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