Feinster Nanoniesel, der jede Pore verstopft, taucht die Erde wie in Wolken. Im Windschatten der fast blattlosen Linden des Straßenrands verebbt das Geräusch der nassen Autoreifen. Er steuert. Sie stöhnt. Das Scheibenwischermetronom tanzt mäßig bemüht, doch immer im Takt. Sie öffnet ihr Fenster zwei Finger breit und atmet die einströmende Luft genüsslich ein, genüsslich aus. Er zündet eine Zigarette an. Magnetisch folgt sein Qualm ihrem Fensterspalt.
„Hätte er ahnen können“, denkt sie, die seit einem Monat nicht mehr raucht. Sie erweitert die Lücke bis zur Fensterhälfte. Nur sie und er. Kein Wort dazwischen. Wenn sie das Radio einschalteten, müssten sie nicht auf die Stille hören. Sie zieht es vor, ihn mit Desinteresse zu strafen. Warum vergisst sie immer wieder. Doch sie weiß noch, er trägt Schuld. Er hält Stille gut aus, was ihr schon oft als Strafe diente.
Er inhaliert die letzten drei Züge im schnellen Staccato. Bevor auch der Filter glüht, setzt er ab, entleert seine Lungen dann in einer toxischen Wolke, die ihr Fensterspalt gierig verschluckt. Sie hustet, als müsste sie wirklich husten. Etwas verzögert versteht er den symbolischen Vorwurf und entschuldigt sich.
„Eine Absicht muss man nicht entschuldigen!“, schimpft sie. Er denkt nach, … – … doch versteht sie nicht. Er ist in Sorge, dass sie zu spät sein werden. Er würde nicht mehr angeln gehen können. Sie schließt ihr Fenster. Er öffnet das seine. Stummes Fenstertennis.
Er wollte nachträglich umsichtig sein und unbedingt allen Rauch draußen wissen. Er wird unsicher. Sein Bein wippt nervös zu nicht hörbaren Klängen und macht sie aggressiv. Sie interpretiert, er zeige sich absichtlich und aufgesetzt fröhlich. Oder schlimmer: Er ist es wirklich. Er denkt derweil an Angelköder. Die richtige Wahl sei sehr entscheidend. Er summt. Er wippt. Er nervt. Sie schweigt und schmollt.
Sie übt sich in provozierender Langeweile, schaut leidenschaftslos in lässiger, leicht schräger Sitzhaltung auf die unästhetischen Farben der abgeernteten Felder, die mit dem trüben Himmel zum unansehnlichen Landschaftsmatsch verschwimmen. „Willkommen im Gummistiefelland!“, denkt sie.
Sie atmet bis in den Unterbauch, hörbar schwer und laut, im ungefähren Zweiminutenabstand. Mit der Spitze ihres Zeigefingers klopft sie ohne erkennbaren Zweck gegen die Scheibe, die sie von der hässlichen, aber freien Außenwelt trennt. Schweres, lautes Atmen. Dann schmerzt ihre Fingerspitze. Derweil fragt er sich, was er später essen würde.
Wie Socken auf der Wäscheleine tropfen plötzlich Häuser in Pastelltönen aus dem Nebel. Jedes Haus schmückt sich mit massiven Carports und Tupfen aus Trampolinen. Der Ort liegt da wie ein Stecksystem eines gutbürgerlichen Retro-Legobaukastens. „Geschmack ist eine Frage der Epoche und Mode die Raufaser der Menschen“, fasst sie gedanklich zusammen.
Ein Golden Retriever bellt durch die Lücken eines weißen schulterhohen Schutzwalls aus zertifiziertem Tropenholzbrettern und verjagt alle, die das ach-so-perfekt domestizierte Leben jenseits des Zauns, mit ihrer bloßen Anwesenheit zu entweihen drohen. Der muskulöse Hausherr mit Grübchen, ohne Geheimratsecken, der am liebsten im Sitzen „pieselt“, harkt akribisch vier Blätter in die Nähe einer blitzblank verchromten Schubkarre.
Seine mondän frisierte Gattin im eleganten Designerkleid zu passenden Pumps, mit tadellosem Lidstrich, der Taille und dem unverbrauchten Lächeln einer Zwölfjährigen, bringt ihm eine heiße Tasse Basentee. Sie streicht ihm eine Haarsträhne von der Stirn und entschuldigt sich dann damit, jetzt die Fußleisten und Vitrinen polieren zu wollen. Perfekt gescheitelte Kinder, die auffällig gerade gehen, fragen, ob sie „Vater“ und „Mutter“ helfen dürften, jetzt, nachdem alle Hausaufgaben erledigt worden waren.
Möchte sie Kinder? Möchte sie Kinder mit ihm? Er denkt darüber nach, an der nächsten Tanke abzubiegen, um sich eine Bockwurst zu kaufen. Mit Senf.
Unweigerlich fragt sie sich, ob sie das auch möchte. Sollte sie sich auch einen Golden Retriever kaufen? Möchte sie Kinder? Möchte sie Kinder mit ihm? Er denkt darüber nach, an der nächsten Tanke abzubiegen, um sich eine Bockwurst zu kaufen. Mit Senf. Das Brötchen würde er weglassen. Aber er verwirft die Idee.
Sie ermittelt die statistische Häufigkeit der gemeinen Linde entlang der B96 zwischen Berlin und der Ostsee. Sie zählt: „Eins … zwei … (…) achtundzwanzig … neunundzwanzig … Linden sind eigentlich ziemlich scheiße. Selbst ein Katzenklo stinkt weniger als eine Lindenallee. Wenn eine Linde blüht, ersticken alle Balkonpflanzen in ihrer Nähe. Miniröcke, die an Fahrradsättel kleben … – immer wieder schön! Und lass es bloß nie regnen! Da verwandelt sich dieses Zeug in eine glitschige Masse, die alles zu Boden reißt. Ganze Straßenzüge voller Autos sind ein Quartal lang lindenspermagelb. Ich glaube, Linden werden seit Jahrzehnten von Waschanlagenbesitzern gepflanzt! Ich mag Birken. Die sehen aus wie Zebras. Birken mag ich wirklich“, resümiert sie, diagnostiziert sich lächelnd eine Neurose und entlässt diesen Anflug in einem bewussten Ein- und Ausatmen. Ein rauchfreies Ein- und Ausatmen.
Er fragt sich, ob er etwas fragen sollte. Auf Reisen ist sie immer gestresst. Darum lässt er es und schaltet stattdessen das Radio an. Es erklingt „Love Hurts“. Sie lacht resignierend und startet den Suchlauf: „Cry Me A River“ … Suchlauf … „Don‘t Go Breaking My Heart“ … Suchlauf … „What Is Love“…
Sie fühlt sich vom Radio verspottet, quittiert dies mit einem „Fuck off!“ und schaltet es wieder aus. Anhand ihrer offensichtlichen Unverträglichkeit Liebe thematisierender Popsongs wähnt er allmählich ein schwelendes Problem auf seinem Beifahrersitz. „Alles okay?“, fragt er hörbar unsicher. „Jipp“, antwortet sie hörbar gelogen. „Dann ist gut!“, darauf er. Dann wieder Stille. Und viele, viele Linden. Hier und da auch eine Birke.
Kurz schaut sie ihn an, schaut schnell wieder weg, wieder hin und wieder weg. Unabgesprochen treffen sich ihre Blicke synchron. „Was habe ich jetzt wieder gemacht?“, zuckt er zusammen. Sie lächelt gezwungen: „Keine Sorge. Du machst nichts.“ Schnell sucht sein Blick die Straße, die momentan weniger Gefahren birgt als das aktuelle Gespräch.
Heute war er ihr schon zwei Mal peinlich. Das nagt an der Selbstverständlichkeit ihrer Liebe. Anfangs war sie sich selbst immer nur peinlich – vor ihm. War er nicht dabei, war sie angenehm selbstbewusst und konnte sich allzeit auf sich verlassen. Wenn sie etwas sagte, dann stimmte das auch immer noch am nächsten Tag. Ohne ihn will sie nicht gefallen. Sie sucht den Moment, in dem sie wieder sein kann, ohne zu müssen. Sie kennt sich selbst nicht mehr, strauchelt immer wieder zwischen dem Verständnis für seine Fehler und dem Wunsch nach der Erfüllung eigener Bedürfnisse – auch mit und trotz der Einsicht für deren erwachsen betrachtete Berechtigung. Es besser zu wissen, heißt nicht, es besser zu machen.
Nur noch achtzehn Kilometer bis Heringsdorf. Er spürt bereits die Fische beißen. Mit seinen Jungs würde er zuerst die Angel auswerfen und dann im Hotel einchecken. Aber das würde heute nicht gehen, weiß er aus Erfahrung. Parallel sinniert sie über Gemeinsamkeiten von Geheimratsecken und die schwerwiegenden Folgen der Schwerkraft für die weibliche Brust und gelangt zum Schluss: „Geheimratsecken sind die Hängetitten des Mannes“, und findet das fair.
Nach einer aristokratischen Auffahrt mit Kreisverkehr, verblühten Rosen und wehenden Fahnen hält das Auto vor dem Eingang zur Hotellobby.
Dies ist Teil 1 einer vierteiligen Geschichte. Teil 2 findest du hier.
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