Wir beide

Es ist 3:40 Uhr. Die Stadt schläft längst und es ist mucksmäuschenstill, als ich von der Arbeit nach Hause laufe. Der Wind ist frischer als am Nachmittag und ich ziehe den Schal enger um meinen Hals. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schiebt ein Junge mit der einen Hand sein Fahrrad, an der anderen hält er ein Mädchen. Ich kann nicht anders, als an dich zu denken.

Wir beide, nebeneinander auf der Straße, weil zu dieser Zeit längst keine Autos mehr fahren. Du schiebst dein Fahrrad neben mir her und wir reden, als würden wir uns schon Jahre kennen. Dabei kennen wir uns gerade einmal dreieinhalb Stunden. Obwohl du in eine ganz andere Richtung müsstest, läufst du mit mir durch die halbe Stadt, um mich nach Hause zu bringen. Du redest von deiner Beziehung, die eigentlich gar keine mehr ist, und dass du das Mädchen nie so richtig geliebt hast. Weil man mit 15 vielleicht noch gar nicht richtig lieben kann, sagst du. Drei Tage später habt ihr euch getrennt.

Sieben Jahre ist das jetzt her, denke ich mir. Beinahe ein Drittel meines Lebens. Der Hut, den du damals getragen hast, hängt an meiner Garderobe, über einhundert Kilometer weit weg von dir. Du wärst wütend, wenn du wüsstest, dass ich um diese Uhrzeit alleine durch die Stadt laufe. „Ich bin alt genug“, würde ich dir antworten und dich dabei angrinsen. Du hättest darauf bestanden, den Weg mit mir zu gehen.

Wir beide. Zusammen liegen wir auf der Wiese unter deinem Kirschbaum, machen Kirschkernweitspucken, und die riesige Schüssel, dir wir randvoll gepflückt hatten, ist schon halb leer. Ich erzähle dir, dass ich Angst vorm Abitur habe und du sagst, dass dich deine Ausbildung nervt. Wir träumen davon, was danach kommt, nach Abi und Ausbildung, und was irgendwann einmal aus uns wird. Wie wir zusammen in eine andere Stadt ziehen, weit weg, in unsere eigene WG. Als Freunde. Ein Jahr später bin ich weggezogen, ohne dich.

Ich drehe den Schlüssel in meinem Schloss, trete mir die Schuhe von den schmerzenden Füßen. Neun Stunden Treppen laufen, Menschen bedienen, nett sein, lächeln, reden, reden, reden … ich kann keine Worte mehr hören. Erschöpft lasse ich mich auf mein Sofa fallen und den Blick über das Foto von uns beiden schweifen, das an einer meiner Wände hängt.

Wir beide, gemeinsam in deinem Zimmer, das mir viel zu eng vorkommt in diesem Moment. Du machst mir Vorwürfe, ich schreie dir mein Schweigen an den Kopf, Tränen in den Augen. Ich würde mich für ihn verbiegen, sagst du. Und willst wissen, warum ich mir von ihm verbieten lasse, meine Freunde zu sehen. „Aber wir wohnen zusammen, was soll ich denn machen?“, antworte ich mit hängenden Schultern. Ein halbes Jahr später tragen wir gemeinsam die Kisten aus dem dritten Stock runter zum Auto. Es ist vorbei. Wir fahren zu meiner neuen Wohnung. Du wischst mir die Tränen aus den Augenwinkeln, nimmst mich in den Arm und sagst, dass ab jetzt alles besser wird. Wir streiten längst nicht mehr.

Ich stehe vor meinem Spiegel, wische mir müde die Reste meiner Schminke von den Augen und muss lächeln. Du hast immer gesagt, dass ich kein Make-up brauche. Kein Make-up, keine Diäten, und erst recht keine Männer, die nur vögeln wollen.

Wir beide, mit der zweiten Flasche Wein auf meiner winzigen Terrasse. Es sind viel weniger Sterne zu sehen als in unserer Heimat, aber wir haben tausend Sterne im Bauch. Als es mir zu kalt wird, gehen wir nach drinnen, legen uns ins Bett und machen irgendeinen Film an. Es ist alles wie immer. Du hältst mich im Arm und küsst meine Stirn, und irgendwann küsst du plötzlich meine Lippen und meinen Bauch und lässt die tausend Sterne frei. Und als du mit mir schläfst, zum ersten und einzigen Mal, ist gar nichts mehr wie immer.

Fast ein Jahr ist das jetzt her. Ein Jahr voller Erklärungen und Ausreden, warum es nicht funktionieren könnte, ein Jahr voller fremder Menschen und noch fremderen Bettdecken, die am Ende doch nie ablenken von dem, was eigentlich ist. Inzwischen lachen wir darüber und sagen, dass wir in zehn Jahren bestimmt heiraten werden, so wie Ted und Robin.

Ich liege in meinem Bett, während mir ein Jahr zu spät bewusst wird, dass ich eigentlich gar keine zehn Jahre warten will.

Und du?

Du liegst in ihrem.

Headerfoto: Send me Adrift. via Creative Commons Lizenz! (Bild beschnitten.)

LUISA ist geboren im Süden, hat Wurzeln im Osten, studiert in der Pfalz und heute ihr Zuhause mit Mann und Hund in Hamburg gefunden. Dort arbeitet sie als selbstständige Texterin und Konzeptionerin. Und nach Feierabend? Liebe Menschen, guter Vino, offene Gespräche. Alles, was es braucht.

2 Comments

  • Wow so schön geschrieben! Ich hoffe, ihr kommt zusammen! Versuchen und scheitern ist besser als aus Angst und Feigheit vor etwas davonzulaufen, das wunderschön werden könnte! Wenn ich auf die letzten 10 Jahre meines Lebens zurückblicke, bereue ich eigentlich nur die Dinge, die ich nicht gemacht habe… Wie nach Kairo zu ziehen und verschiedenen Menschen meine Gefühle zu offenbaren. Irgendwann ist es zu spät oder man ist zu alt 😉

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