Kürzlich hat sich mein Freund Marcus, der nach einer dreijährigen Beziehung wieder Single ist, ganz verzweifelt bei mir beklagt, dass alle Frauen, mit denen er sich seitdem zu einem Date traf, in therapeutischer Behandlung sind.
„Ich meine, vielleicht liegt’s ja auch an Berlin“, sagte er verzweifelt. „Aber alle Frauen unter dreißig, mit denen ich mich treffe, haben mindestens zwei Therapien hinter sich.“
„Ich glaub, ab dreißig sollte jeder mal zum Therapeuten gehen“, sagte ich. „Über die Jahre hat sich einfach zu viel Dreck angesammelt. Da sollte schon mal ein objektiver und vor allem professioneller Blick auf dein Leben geworfen werden.“
„Nein, nein, das stimmt schon, aber das meine ich gar nicht. Die waren wirklich alle schwer psychisch gestört“, sagte er eindringlich. „Schwer psychotisch! Ich komm mir immer vor, als würde ich irgendwelche Horror-Date-Szenen aus einer Matthias-Schweighöfer-Kömodie nachspielen. Nur dass es bei mir ernst gemeint ist.
Zwei Tage zuvor hatte er sich mit Rebecca getroffen, die ihm erzählte, dass sie dieses Jahr ihr Zehnjähriges hat.
„Dein Zehnjähriges?“, fragte er.
„Zehn Jahre Therapie“, sagte sie.
„Klingt nach einem Jubiläum“, lachte er, sie machte ja offensichtlich einen Scherz. „Das muss dann aber mal gefeiert werden.“
„Zehn Jahre Therapie und zehn Therapeuten“, sagte sie mit einem tragischen Zug um die Mundwinkel. Marcus nickte hilflos, offenbar war es kein Scherz. Sie hob ihren Blick und sah ihm direkt in die Augen, bevor sie eindringlich fortfuhr. „Aber jetzt habe ich endlich gelernt, mich selbst zu lieben.“
Oh Gott, dachte er, und wich unwillkürlich einige Zentimeter zurück.
„Es gibt einfach Dinge, die man bei einem ersten Date nicht erzählt“, sagte Marcus, als er die Geschichte beendet hatte. „Wenn das beim ersten Date schon so ein großes Thema ist, weiß man doch gleich, wie die Beziehung aussieht. Das wird keine Beziehung, das wird ’ne Therapie. Und das kann ich nicht gebrauchen.“ Er nahm einen Schluck von seinem Drink, dann sagte er: „Also ganz ehrlich: Single-Frauen unter dreißig, die sind doch alle traumatisiert.“
„Na ja“, sagte ich gedehnt.
„Is so“, sagte er und schlug mit der Faust leicht auf die Tischplatte. „Die haben alle ’nen Schuss.“
Ich machte schnell eine abwehrende Geste.
Es ist schon wahr, noch nie wurde so offen über seelische Leiden gesprochen. Noch vor sechs Jahren hat es mich irritiert, wenn mir einundzwanzigjährige Frauen erzählt haben, dass sie bereits mehrere Therapien hinter sich haben. Heute überrascht es mich nicht mehr. Ich gehe davon aus. Erst am Wochenende hat mir eine Freundin erzählt, dass jede Frau ihres Bekanntenkreises in Therapie ist. „Und die Männer?“, fragte ich. „Nicht alle“, sagte sie. „Ich glaub, bei Männern ist die Hemmschwelle auch größer. Aber es werden auf jeden Fall mehr.“
Es gibt ja inzwischen unzählige Studien, die sich mit diesem Thema beschäftigen, und wenn man diese Statistiken liest, entsteht der Eindruck, dass wir tatsächlich in einem Zeitalter der psychischen Störungen leben. Eine Untersuchung des Robert Koch-Instituts ergab, dass im Jahr 2011 jeder dritte Deutsche unter mindestens einer psychischen Störung litt – und das ist jetzt vier Jahre her. Der Spiegel schreibt: „Seither sollen die Bürger noch viel gestörter geworden zu sein: In Deutschland bricht die Zahl der psychischen Diagnosen gerade alle Rekorde.“ Depressionen, Angsterkrankungen, Süchte gelten ja mittlerweile als Volkskrankheiten. Gerade in der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen, was ja auch ganz gut zu Marcus‘ Dating-Erfahrungen der letzten Monate passt.
Die Frage ist nur: Was ist da passiert?
Natürlich gibt es die unterschiedlichsten Gründe, die Menschen zum Psychoanalytiker treiben, aber ich glaube, bei dem Großteil sind es vor allem soziale Gründe. Das Ergebnis, in unserer Gesellschaft zu leben, in die wir uns eingliedern, an die wir angepasst sind, weil wir in sie hineingeboren wurden. Machen wir uns nichts vor: Auch wenn wir uns das selten eingestehen, weil wir uns ja alle als so individuell empfinden, wollen wir den anderen entsprechen, wir wollen dazugehören. Mitmachen. Wir leben in einem System, dessen Produkte wir einfach mal sind, ob wir nun wollen oder nicht. Wir können uns ihm nicht entziehen. Es ist ein System das Konsumenten braucht, und daran orientiert sich auch unser Verständnis von Glück. In der Werbung, dem Fernsehen und in Magazinen wird uns erklärt, wie unser Leben auszusehen hat, um glücklich zu sein. Als könne man sich Glück kaufen. Man nimmt uns an die Hand. Man sagt uns, wie wir glücklich zu sein haben. Es ist ein vorgegebenes Glück, das nichts mit uns zu tun hat. Ein fremdes Glück, nach dem wir streben, um dann irgendwann enttäuscht festzustellen, dass unsere Erwartungen an dieses Gefühl viel zu hoch waren. Dass wir es überschätzt haben.
Es liegt auch daran, dass immer mehr Menschen eine Leere spüren, die sie sich so ungern eingestehen wollen. Man hält die Stille nicht aus, man will sich nicht mit sich selbst beschäftigen, vielleicht auch weil man fürchtet, was einen da erwartet. Um diese Leere irgendwie zu füllen, wollen wir ständig etwas erleben. Berlin ist da ein sehr gutes Beispiel. Hier kann man jeden Tag ausgehen, die Stadt ist die Party-Metropole. Die Partyszene produziert ständig Ereignisse, in denen es etwas zu erleben gibt. Wir gehen feiern, trinken zu viel oder nehmen Drogen, um irgendwie das Gefühl zu haben, auszubrechen. Zu leben. Das ist allerdings ein großes Missverständnis. Denn auch das sind nur künstliche, fremde Gefühle. Wir füllen die Leere nicht, wir gehen ihr aus dem Weg. Wir flüchten uns in Illusionen. Wir verlieren das Gefühl für uns selbst.
Mir ist schon vor Jahren aufgefallen – merkwürdigerweise vor allem bei Frauen – , dass vielen ihre Natürlichkeit verloren gegangen ist. Je jünger sie sind, desto affektierter geben sie sich. Als würden sie sich selbst spielen, ohne dass es ihnen wirklich auffällt. Verunglückte Schauspieler ihrer selbst. Wir pflegen unsere Fassade, wir kultivieren eine Rolle. In sozialen Netzwerken, im Arbeits- und im gesellschaftlichen Leben. Die Tragik ist, dass wir vor allem in unserer Rolle Bestätigung und Anerkennung erleben, also über unsere Fassade, die mit uns selbst nichts zu tun hat. So gesehen befinden wir uns in einem andauernden Prozess der Selbstentfremdung. Bis wir irgendwann nicht zwischen unserer Rolle und unserer Identität unterscheiden können. Sie sind verschmolzen, bis zur Unkenntlichkeit miteinander verwoben, sodass wir keinen Unterschied mehr ausmachen können. Wir können die Rolle nicht mehr von uns selbst trennen. Ein Zustand, der zu einer Abtötung der eigenen Gefühle führt, weil sie ihren wirklichen Sinn verlieren. Und das, liebe Leser, ist die Mechanik, aus der, psychoanalytisch betrachtet, eine Depression entsteht.
Wir werden nicht zu einem Volk von psychisch Gestörten, eigentlich sind wir es schon. Es ist nun mal kein Zeichen seelischer Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein. Das ist ein sehr wahrer Satz. Ein Satz, der uns langsam klar wird – bewusst oder unbewusst –, denn wir beginnen, die Auswirkungen immer deutlicher zu spüren.
Aber wie kommen wir da raus? Das ist eine sehr gute Frage.
„Uns geht’s einfach viel zu gut“, sagte Anna resolut, als ich ihr letzte Woche erzählt habe, dass ich an diesem Text arbeite. „Wir haben doch keine wirklichen Probleme. Unsere Probleme entstehen, wenn man einen gewissen Lebensstandard gewöhnt ist. Wir haben einfach mal Luxusprobleme. Eigentlich brauchen wir mal wieder ’nen Krieg.“
„Einen Krieg? Ganz vorsichtig!“, sagte ich schnell. „Also das ist jetzt schon ein sehr drastischer Ansatz. Gerade in den heutigen Zeiten.“
„Klar“, erwiderte sie. „Aber wir müssen endlich mal aufwachen. Wir stecken so in diesen Strukturen fest, wir sind so degeneriert, unsere Werte sind so verzerrt. Wir brauchen einfach mal nen Knall, um uns überhaupt daraus lösen zu können.“
Gott, dachte ich. Die Brachialmethode. Aber grundsätzlich hat Anna schon recht.
Man hat festgestellt, dass Depressionen seltener sind, wo man sie eigentlich erwarteten würde. In Kriegszeiten zum Beispiel oder auch bei wirklicher Armut. Vielleicht liegt das daran, dass diese Probleme einfach konkreter sind. Der Lösungsansatz ist überschaubarer, und damit beherrschbarer. Natürlich ist wirklicher Hunger, wirkliche Armut und Krieg für uns inzwischen einfach zu abstrakt. Wir kennen ja die Bilder aus den Medien, die einen schon berühren, aber dieses Gefühl löst sich schnell auf, wenn wir weitergeschaltet oder die Zeitung weggelegt haben. Es ist eine Nachricht in der Informationsflut, der wir tagtäglich ausgesetzt sind. Es ist einfach zu weit weg.
Mir geht es ja nicht anders. Ich habe keinen Krieg erlebt, ich habe nie gehungert, ich bin nie an meine existenziellen Grenzen gekommen. Hemingway hat einmal gesagt, man kann nur ein guter Schriftsteller sein, wenn man einmal dem Tode nahe war. Nahtoderlebnisse wünsche ich natürlich niemanden. Allerdings würden Geschehnisse dieser Art uns lehren, unser Leben mit einem anderen, bewussteren Blick zu betrachten. Seine Bedeutung zu ermessen.
Anfang des Jahres habe ich mich mit einem Mann unterhalten, der eine schwere Krankheit überstanden hat. Leukämie. Es war ein ungewöhnliches Gespräch, in dem es gar nicht um die Krankheit ging. Mir fiel nur auf, wie er über das Leben sprach, wie bewusst der Mann jeden Tag seines Leben empfand. Wie sehr er sie genoss, seine zweite Chance.
„Man beginnt das Leben wieder zu leben“, sagte er.
Ich nickte, denn man spürte es in jedem seiner Sätze. Und ich spürte, wie schwer es mir fiel, dieses Gefühl auf mein Leben anzuwenden. Man ist schon sehr degeneriert. Manchmal überlege ich, wie sich generell der Umgang zwischen uns ändern würde, was gesellschaftlich passieren würde, wenn wir unser Leben so bewusst wahrnehmen und schätzen würden, wie dieser Mann. Wenn wir in der Lage wären, die Perspektive zu ändern, und unvoreingenommen einen Blick auf unser Leben werfen würden.
Aber so ist es ja nun einmal nicht. Wir handeln im Rahmen unserer Möglichkeiten und setzen das nächste „Gefällt mir“ unter Sprüche wie „Du musst dein Ändern Leben“, oder „Vielleicht sollten wir manchmal das tun, was uns glücklich macht.“ Mehr nicht. Es ist nichts Nachhaltiges. Und dann machen wir weiter. Denn wir sind ja irgendwie zufrieden. Es geht ja uns ja irgendwie gut. Zumindest geht es gut genug.
Es ist ein bisschen so, als würde man in Zeitlupe beobachten, wie ein Auto auf einen Baum zurast. Der Aufprall ist unausweichlich, aber wir blenden aus, dass er eher kommt, als wir hoffen.
Und zwar sehr viel eher.
Fun Fact: Michael Nasts neues Buch Generation Beziehungsunfähig könnt ihr jetzt schon vorbestellen, da findet ihr noch mehr zu diesem Text. Den ersten steilen Schinken gibt es schon etwas länger auf dem Markt.
Header-Illustration: Jacqueline Pulsack <3
…vielleicht hat es ja auch was Gutes, wenn jeder dritte eine Therapie macht? Gerade eben um zu lernen, sich selbst zu lieben?!
Wenn ich mir bewusst machen will, wie gut wir es hier haben, lese ich über den Krieg und seine Schicksale. Solange man eben nich „weiterzippt“ und sich nur berieseln lässt… Sondern sein Herz wirklich der Geschichte des anderen öffnet… Hat das eine läuternde aufweckende Wirkung: http://mondamo.de/blog/?p=755
Marcus beklagt sich verzweifel und zwei Zeilen später sagt er etwas verzweifelt. Wenn so eine schlampige Wortdoppelung schon im Beginn eines Textes steht, sollte man als Leser sich eigentlich auch nicht die Mühe machen weiterzulesen. Und was will uns Nast den eigentlich diesmal sagen? Bei seiner nicht enden wollenden Phrasendrescherei ist das wie immer etwas schwer feststellbar: Wir sind ein Produkt des Systems. Die Werbung lebt uns ein falsches Leben vor. Uns geht es viel zu gut. Ein krebskranker Freund hat nach überstandener Krankheit den Sinn des Lebens erkannt. Na, Hilfe! Ein Best-of auf Plattitüden, zusammenmontiert zu einem Text. Zwischendurch erzählt er uns, was seine Freunde so erzählen. Nur leider bewegen sich die auch alle auf dem gleichen intellektuellen Niveau wie Nast und man erfährt auch da keinen originellen Gedanken. Aber die schreiben wenigsten keine Kolumnen. Oder Sachen wie: „Mir ist schon vor Jahren aufgefallen – merkwürdigerweise vor allem bei Frauen – , dass vielen ihre Natürlichkeit verloren gegangen ist. Je jünger sie sind, desto affektierter geben sie sich.“, um dann im selbem Absatz festzustellen, „Und das, liebe Leser, ist die Mechanik, aus der, psychoanalytisch betrachtet, eine Depression entsteht.“ Na dann!
Nur eine kleine Ergänzung für alle, die das Thema Psychotherapie interssiert: Eine Therapie kann man nicht nur bei einem Psychoanalytiker oder einer Psychoanalytikerin machen. Das ist nur eine Therapierichtung von insgesamt 3 in Deutschland sozialrechtlich anerkannten Richtungen. Die anderen beiden sind Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie. Die Therapeuten/-innen heißen dann aber nicht Psychoanalytiker/-in sondern einfach Psychotherapeut/-in. Nicht jeder, der eine Therapie machen will muss also eine Psychoanalyse machen.
Ich weiß, der Text ist keine Abhandlung über die Formen der Psychotherapie. Aber diese Fehldarstellung von Psychotherapie = Analyse begegnet mir oft und ich finde es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Analyse nur eine Möglichkeit ist.
Ich bin beeindruckt, dass sich eure Generation mit diesem Thema so intensiv auseinander setzt. Es erschreckt mich auch. Vielleicht, wenn meine Generation Angebote erhalten hätte, die zwar auch keinen krieg erleben mussten aber meistens Scheidungskinder sind, professionelle Hilfe bekommen hätten, wäre es leichter gewesen. Ihr habt recht, die Grundlage werden in der Kindheit geprägt. Auch wenn es uns materiell gut geht, wird es immer eine wichtige Frage sein: Was erwarte ich vom Leben und was ist für mich Glück. Wie komme ich mit Problemen zurecht. Sehe ich sie als Herausforderungen und mit dem wissen, dass sie mich stärker machen. Es gibt in meiner Generationen viele, die sich keine Hilfe holen und am Leben scheitern. Ich bin 62 Jahre und freue mich auf weitere Beiträge.
Hallo Michael.
Ich habe ein bisschen mit mir gekämpft, ob ich das jetzt kommentieren soll oder nicht. Weil mir einige Stellen aufstoßen, vor allem die, wo du über Frauen schreibst – aber sich „feministisch“ zu äußern macht dann doch immer so ein Fass auf, wo ne ganze Menge unangenehme und nervige Dinge drin sein können.
Trotzdem, nur ein kurzer Hinweis: Du schreibst, dass Werbebotschaften und gesellschaftlicher Druck ein wichtiger Faktor sind bei der riesigen Welle an psychischen Erkrankungen, die du zu erklären versuchst. Und wunderst dich anschließend, dass vor allem Frauen betroffen seien, „je jünger, desto affektierter“. Also, zum Einen ist „affektiert“ ziemlich oft ein Wort, das benutzt wird, um unerwünschte weibliche Verhaltensweisen zu sanktionieren – ähnlich wie „hysterisch“. Wenn eine Frau mal etwas lauter oder unkonventioneller oder irgendwas anderes ist, das nicht in das das so enge wie paradoxe Bild von dem passt, wie sie gefälligst zu sein hat, kommt dieser Diskurs zum Einsatz. Das hat recht hässliche, von dir mit Sicherheit nicht beabsichtigte Nebenwirkungen.
Unter Anderem auch, dass der von dir erwähnte Druck durch Medien und Gesellschaft und so weiter auf Frauen ganz anders (meiner Meinung nach sehr viel stärker) ausgeübt wird als auf Männer. Da hättest du eine Erklärung des von dir beobachteten Phänomens in deinen eigenen Begriffen.
Ich glaube aber ehrlich gesagt, dass dir all das bei Frauen mehr auffällt, weil du halt zufällig auf sie stehst. Die Neurosen von Kumpels fallen weniger ins Gewicht als die eines zukünftigen Partners, deswegen schenkt man ihnen mehr Aufmerksamkeit. Und aus meiner Perspektive kann ich dir sagen, dass die jungen Männer meines Bekanntenkreises mindestens genau so orientierungslos sind und sich ebenso an Rollenbildern abarbeiten, wie Frauen. Sie haben ein bisschen mehr Bewegungsradius, weil die Erwartungen an sie nicht ganz so widersprüchlich und immer noch von uralten Machtstrukturen durchdrungen sind, aber letztendlich ist es genau die gleiche Scheiße.
Ich will deinen Artikel jetzt auch nicht auf die Geschlechterverhältnisse reduzieren , weil du unabhängig davon auch viele wichtige und interessante andere Dinge angesprochen hast. Aber auf dieser Seite geht es ja sowieso hauptsächlich darum, wie Frauen und Männer sich gegenseitig (und natürlich auch untereinander) begegnen können und wollen. Und in diesem Zusammenhang fand ich das gerade einen wichtigen Punkt.
Liebe Grüße
Johanna
Michael,
ich lese deine Artikel immer sehr aufmerksam, da sie so ehrlich geschrieben sind und die wunden Punkte bzw. den wahren Kern unserer Zeit treffen! Ich habe gerade sogar die Kommentare durchgelesen, um nicht in eine Wiederholungsschleife zu gelangen und ich musste feststellen, dass mir ein Gedanke sofort kam, der hier nirgends auftaucht: Ja vielleicht wird die Suche nach der Frage: Wer bin ich? zu einer Volks“bewegung“ oder ist die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben eine Volks“krankheit“, aber meines Erachtens nach nicht, weil uns langweilig ist und wir nichts besseres zu tun haben, sondern weil wir die Zeit und die Möglichkeiten dazu haben, uns selbst zu suchen und Depressionen zu diagnostizieren. In Kriegen haben die Leute erst einmal nur mit dem unmittelbaren Überleben zu kämpfen und sind vor allen Dingen um Sicherheit und Schutz Ihrerselbst und ihrer Liebsten besorgt. Aber auch sie müssen nicht wissen, wer sie sind und wünschen sich mehr aus sich und ihrem Leben machen zu können, ihren eigenen Zielen zu foIgen. Krieg ist nur ein Ausdruck, dass die Menschen sich nicht genug mit sich beschäftigen, sondern auch nur vor sich fliehen wie in den Bars Berlins bei einer Dose Koks, nur noch vel gefährlicher und eine Gefahr für die ganze Gesellschaft.
Depressionen sind nichts schönes, aber genau deshalb sollten wir sie angehen bzw. früh genug uns mit uns beschäftigen, um sie zu vermeiden. Ich gebe dir recht, dass unsere Generation nicht psychisch gestörter ist als andere, sondern wir eben nur darüber mehr nachdenken, was mit uns wird und wer wir sind. Die Kriegsgeneration war nach dem Ende des 2. Weltkrieges depressiver als man glaubt, es war ihnen vielleicht nur lange zeit nicht bewusst. Wir mussten es ihnen erst erklären. Wie würde Mark Twain so schön sagen: “ Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.“
Toller Text, mit viel Wahrem drin. Ist es nicht aber so, dass wir uns priveligiert fühlen können diese Luxusprobleme zu erkennen? Denn dadurch können wir doch einen Weg einschlagen, der etwas ändert. Nach einem Krieg ist es ja so, erst einmal eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen. Damit gibt man sich zufrieden um des Friedens Willen. Wir, ohne die Kriegserfahrungen können unsere „funktionierende“ Gesellschaft gestalten. Wir sind in der Position zu erkennen, was die Menschen in unserer Gesellschaft krank macht, und können an diesem Rädchen drehen. Meine Vermutung ist, dass dir „alte“ Generation, die derzeit in Politik usw. an den Hebeln sitzt nichts mehr ändern (wollen) wird. Ist es daher nicht an uns, dort einzugreifen? Wir, die erleben, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu erkranken, können diese Erfahrungen in die Politik, die Welt und wohin sonst noch, tragen und versuchen, die Hebel selbst in die Hand zu nehmen. Natürlich kann man das nicht, wenn man noch im Erkrankungsprozess steht. Sobald man aber wieder in der Lage ist zu sagen „ich will leben, aber nicht so“ hat man auch wieder die kraft die entsprechenden Entscheidungen zu treffen und denn Weg zu gehen.
Die Theorie vom neu entdeckten Leben nach einer krassen (Nahtod-)Erfahrung klingt immer so schön um wahr zu sein.
Aus eigener Erfahrung möchte ich sagen, dass man danach erstmal zerbricht und den Sinn und den Blick für das Schöne komplett verliert. Woher soll man auch die Kraft nehmen, wenn einem das Rückgrat gebrochen wurde? Ja sicher, man ist dankbar und demütig, dass man es „geschafft“ hat, aber die von außen entstehende Wunde, das unkontrollierbare Ereignis als solches sät einem die schiere existentielle Angst in den Körper.
Wird man davon depressiv? Nun, ich glaube, dass man zwangsläufig die berühmten Phasen durchläuft. Trauer, Wut, Akzeptanz und so weiter. Wie lange jede einzelne Phase bei jemandem dauert, ist sicherlich unterschiedlich. Fehlen manche Phasen, dann ist man sicher Meister des Verdrängens.
Wobei ich jetzt den Bogen zum anderen Teil gespannt habe, den ich zu deinem Artikel sagen möchte: Es liegt in der Eigenverantwortung eines jeden, sich abzuschießen oder regelmäßig mit Alk/Gras/Drogen wegzuknallen. Die Realität schöntrinken, einen Trip fahren, sorglos sein. Das ist in trauriger Mode.
Ich beobachte viel zu viele Menschen dabei, wie sie versuchen, ihr Leben und die Gegenwart nicht ertragen zu müssen.
Mir sagte mal eine Kollegin: „Weißt du Marco, seitdem ich keine Drogen mehr nehme, habe ich das Gefühl nicht mehr Lachen zu können.“ – Wie schlimm und traurig. Nicht, dass sie keine Drogen mehr nimmt, sondern dass sie sich dadurch kaputt gemacht hat.
Der erste Schritt ist es, um mal zum Punkt zu kommen: Hört auf mit saufen und kiffen. Setzt euch irgendwo unter Menschen hin und lasst das Leben auf euch wirken.
Das ist keine Lösung für alle Probleme, aber es entschleunigt und bringt einem nach und nach ein Bewusstsein zurück.
(PS: Natürlich ohne dabei dauernd aufs Handy zu gucken…)
Lieber Michael,
du sprichst von Depressionen, Angsterkrankungen und Süchten. Von Volkskrankheiten. Du willst der Frage auf den Grund gehen, was da passiert sei. Als Antwort nennst du soziale Gründe, die deinem Glauben nach den Großteil der Menschen, die zu Psychoanalytiker gehen, dorthin treiben. Dann schreibst du von empfundener Individualität, von gewünschtem Zugehörigkeitsgefühl, von wir-machen-uns-etwas-vor, von fremdem Glück, „nach dem wir streben“, von zu hohen Erwartungen. Weiter fallen Wörter wie Leere, Stille, Party-Metropole, Alkohol, Drogen, ausbrechen, leben, Missverständnis, Illusion. „Verunglückte Schauspieler ihrer Selbst.“ usw.
Und dann, am Ende dieses Abschnittes, schlägst du wieder den Bogen zu Depressionen. Im folgenden schreibst du, wir seien eigentlich schon ein Volk von psychisch Gestörten (und Depressionen würden nicht erst zu einer Volkskrankheit werden).
Auf die Frage „Aber wie kommen wir da raus?“ schlägst du vor, wir sollten unser Leben bewusster wahrnehmen und schätzen. Um eben nicht an Depressionen zu erkranken? Wie schön, wenn es so simpel wäre.
Zu Beginn deines Textes stellst du die Frau, die seit 10 Jahren zur Therapie gehe, als unangenehme Zeitgenossin dar, indem du die abweisende Reaktionen deines Freundes beschreibst, nachdem sie ihm sagte: „Aber jetzt habe ich gelernt, mich selbst zu lieben.“. Der an Leukämie erkrankte Mann übernimmt hingegen die Rolle des tragischen Helden in deinem Text, wenn er sagt: „Man beginnt das Leben wieder zu leben.“
Der einzige vielleicht erwähnenswerte Unterschied der beiden Geschichten liegt darin, dass es sich einerseits um eine Unterhaltung bei einem ersten Date und andererseits nicht um eine Unterhaltung bei einem ersten Date handelt. Beide Personen teilen ihrem Gegenüber mit, dass sie krank sind/waren (bei einer 10-jährigen Therapielaufzeit gehe ich mal schwer davon aus, dass die Dame krank war, auch wenn du nicht schreibst, was der Grund ihrer Besuche war). Die eine hat eine psychische Krankheit, der andere eine organische. Beide Personen scheinen die Frage „Aber wie kommen wir da raus?“ für sich beantwortet zu haben. Zum Glück fiel sie in beiden Fällen lebensbejahend aus.
Sowohl bei schweren psychischen als auch bei schweren organischen Krankheiten kommen Betroffene an ihre existenziellen Grenzen. Solche, die du laut eigener Aussage nicht kennst. Und ich wünsche dir von Herzen, dass es so lange wie nur möglich auch dabei bleibt.
„Wir“ sind kein Volk von psychisch Gestörten! Zum Glück. Unsere Mitmenschen mit psychischen Störungen haben es verdient, genauso ernst genommen zu werden, wie die mit organischen Krankheiten.
Für alle, die von psychischen Krankheiten betroffen sind, wünsche ich mir, dass es weniger von solchen Texten wie deinem gibt.
Für alle, die was über Depressionen erfahren und nicht nur das nächste „Gefällt mir“ unter einen Text setzen wollen, der philosophisch und tiefgründig scheint: http://www.deutsche-depressionshilfe.de/
Liebe Zoe,
ich finde es ganz großartig, was du hier schreibst!
Vielen Dank, dass du deine Gedanken mit uns geteilt hast!
Liebe Grüße
Julia
Darüber hinaus muss man ja aber auch feststellen, daß gerade Berlin nicht unbedingt ein Sammelbecken für glückliche,zufriedene, gefestigte Charaktere ist.
Und damit meine ich gar nicht die gebürtigen Berliner.
Nein, ein Großteil der Zugezogenen kam ja mal hierher, weil sie endlich ihren Sockenschuss ungehindert ausleben wollten.
Und nicht so gedeckelt werden wie in der Provinz, aus der sie kommen.
Das ist sicherlich für diese Leute zunächst befreiend- auf der anderen Seite stellt man aber als Konsequenz in Berlin fest:
wenig Umgangsformen, viel sozialen Autismus, Aggressionen, Psychosen, Depris…en masse.
Tja, egal wo du hingehst, du nimmst dein Problem eben mit, lieber Zugereister.
Wenn man viele natürliche, nette, gefestigte, bodenständige Menschen sucht ist Berlin eben nicht gerade „the place to be“. Zumindest nicht im Innenstadtbereich.
Da musst man vermutlich dann eher ins Ruhrgebiet oder nach Freiburg…
Ach, da ist aber auch immer viel Getue dabei. Übersteigern von Befindlichkeiten und natürlich das Gefühl, mal wieder besonders zu sein und im Mittelpunkt zu stehen. Früher war man mal traurig, heute hat man eine Depression. Früher hatte man einen Fimmel, heute gleich eine Neurose. Jeder, der was auf sich hält, muss mitreden können und sich zum Therapeuten hocken. Befindlichkeiten werden nach außen getragen, um Aufmerksamkeit zu generieren, Spinnereien werden kultiviert, weil sie vielen das Gefühl von Individualität zu geben. Es gibt eine Szene in dem großartigen Film American Beauty, in der es heißt: „Es gibt nichts Schlimmeres, als gewöhnlich zu sein!“. Genau darum geht es: lieber eine Macke haben, als normal und gewöhnlich zu sein. Dabei übersehen diese Leute, dass sie sich schon längst auf den Hype-Train begeben haben und damit eben nicht mehr im Geringsten individuell sind. Individualisten, die alle gleich sind: alle gleich aussehen, alle gleich reden, alle das Gleiche gut oder schlecht finden…..meistens sind es Dinge, die sie irgendwo aufgeschnappt haben und die dann mit prätentiösem Geschisse weitergetragen werden. Damit werden Klischees bestätigt, kultiviert und letzten Endes zur Realität. Eine Welt voller Selbstdarsteller, die nicht damit klarkommen, dass Sie nur Standardausgaben sind-diese Therapie-Manie ist nur ein Ausdruck davon……
True words…
Hallo Michael,
ein sehr schön geschriebener Artikel, da ich mich jetzt schon seit längerem mit dieser Thematik befasse, kann ich dazu noch folgendes ergänzen: „Bevor du dir selbst Depression oder einen Minderwertigkeitskomplex diagnostizierst, stelle sicher, dass du nicht einfach nur von Arschlöchern umgeben bist.“ Sigmund Freud
Genau das ist das Problem, die jetzigen 30er sind die Scheidungskinder der 80er. Familien brechen auseinander, Väter, eher selten Mütter, verschwinden und hinterlassen ein riesengroßes Loch in der verlassenen Kinderseele.
Aus dem Buch „Die Katze“ von Joy Fielding steht: „Schließlich sind wir alle das Produkt unserer Kindheit. Alles, was wir als Erwachsene werden, geht darauf zurück, wer wir als Kinder waren, wie wir behandelt wurden und was unsere Ideen und Werte geprägt hat. Wir sind wer wir waren – nur größer.“
Genau da liegt das Problem, es sammelt sich sehr viel an, die Seele ist aus Glas, je stärker das Glas, desto mehr Steine kann sie vertragen, jedoch bricht selbst der stärkste Esel unter einer bestimmten Last zusammen. Häufig zieht es sich durch das ganze Leben, ohne das man es bewusst merkt. Ich kenne so viele, die denken sie sind gesund, dabei sind sie stets im Verdrängungsmodus.
Allgemein sind bei Frauen mehr Depressionen diagnostiziert, dass liegt daran, dass Männer erst mit einem Alkohol- oder Drogenproblem, ausgelöst durch eine Depression, diagnostiziert werden.
Welche Werte, welche Ideale haben wir, wie wurden sie uns gelehrt oder eher vor gelebt. Welchen Einfluss hat die moderne Familienkonstellation – alleinerziehend? Wie Freud es schon anmerkte, stelle sicher, dass du nicht einfach nur von Arschlöchern umgeben bist.
Wichtig ist letztendlich nur für welches Verhalten wir uns entscheiden. Egal was wir gelernt haben, was uns vor gelebt wurde, kann man sich selber entscheiden, was wir für ein Mensch sein wollen. Und eine Therapie kann uns in dieser Entscheidung unterstützen, es ist ein Seil, welches man gereicht bekommt, allerdings hoch klettern muss man alleine 😉
Liebe Grüße Julia, ein Single aus der Großstadt
Hallo Michael,
dieses Leben wieder zu leben Thema und die entsprechende Reflektion gelingt mir viel besser seit ich jeden Tag drei gute Dinge aufschreibe. Es ist der Wahnsinn wie viele gute Dinge in unserem Leben passieren, die wir gar nicht mehr realisieren, weil wir abstumpfen. Aber sich Abends freuen, dass auf dem Weg zur Arbeit der Lieblingssong im Radio lief oder dass es die ersten deutschen Erdbeeren im Supermarkt geht, hilft das Leben in Relation zu setzen.
Kann mir schon vorstellen, dass Therapien da auch ein pragmatischer Ansatz sind, gerade, wenn man die Kleinigkeiten komplett zu schätzen verlernt hat.
Ich glaube nur in der Reflexion des täglichen Glücks, kann man seine Zufriedenheit finden. Und wird sich auch ein bisschen bewusster, dass man gar nicht immer das Glück suchen muss, weil es einem täglich ganz oft begegnet. Da wird man quasi selbst schnell zum eigenen Therapeuten 🙂
Viele liebe Grüße
Tanja