Liebe ist ätzend

Die meisten Unfälle passieren zu Hause, der häufigste Missbrauch findet innerhalb der Familie statt und niemand hat mich jemals schlechter behandelt als mein ehemaliger Liebhaber. Zum Glück hat er mich verlassen. Aber, ach, ach, ach, es tut so weh. Liebe ist ätzend. Darf nicht in Kontakt mit Schleimhäuten, Augen und offenen Wunden geraten. Bei versehentlichem Kontakt bitte sofort ausspülen und einen Arzt aufsuchen.

Ich gehe aus dem Haus, weg von der Unfallgefahr und ich gehe zu Lidl. An der Kasse verkaufen sie Flachmänner mit Wodka. Die Flachmänner bei Lidl an der Kasse sind wenigstens zu haben. Warum denn nicht. Was wäre gegen ein bisschen innere Wärme einzuwenden, in meiner Situation? Ich kaufe und trinke und hebe den Kopf, als ich die Flasche an die Lippen setze. Das meinen sie also alle mit “Kopf hoch”.

An der Lidl-Decke hängt ein Plakat: “Azubis gesucht”. Der Werbebildazubi sieht glücklich aus. Vielleicht sollte ich mich bewerben, vielleicht werde ich dann auch wieder glücklich. Die Lidl-Kassiererin hat mir einen schönen Tag gewünscht. Vielleicht weiß sie noch, was das ist.

Ja, ich werde Azubi bei Lidl. Aber bei Lidl ist alles so billig. Die werden nicht gut zahlen. Ich brauche aber Geld, denn mein Selbstbewusstsein ist jetzt low, weil ich ja verlassen wurde.

Wenig Geld zu verdienen, würde alles noch schlimmer machen. Wenn man wenig Selbstbewusstsein hat, wirkt man nicht attraktiv, sagen alle. Aber ich bin ja sowieso nicht attraktiv. Auch als ich noch selbstbewusst war, war ich nicht attraktiv. Sonst hätte er mich doch nicht verlassen.

Ich trinke noch einen Schluck und habe eine neue Idee: Ich werde Model. Neben der Kita ist eine Modelagentur. Vielleicht brauchen sie noch eine über 40jährige depressive Dünne mit zu großer Nase und Augenringen.

Ich werde Model. Vielleicht brauchen sie noch eine über 40jährige depressive Dünne mit zu großer Nase und Augenringen.

Der Flachmann wirkt. Ich habe meinen Scheiß-Humor wieder. Wegen dem Scheiß-Humor glaubt mir niemand, dass ich zutiefst verzweifelt bin. Wegen dem Scheiß-Humor nimmt nicht mich keiner ernst. Wegen dem Scheiß-Humor nimmt mich keiner. Ich bin der Clown vom Prenzlauer Berg. Ich stehe vorm Lidl und sehe mir andere Frauen an. Ja, das sind gute Frauen. Die hätten ihn domptieren können. Die hätten seinen Stolz gebrochen. Ich habe es noch nie geschafft, den Stolz eines Mannes zu brechen. Immer nur meinen eigenen.

Mein Handy tönt, als ich den zweiten Flachmann exe. Ha! Das ist bestimmt ER! Vielleicht wird alles gut. Wir werden ein Baby zusammen haben und auf Teneriffa heiraten. Meine Brüste spannen plötzlich so. Wahrscheinlich schießt gerade Milch ein. Ich war noch nie auf Teneriffa, aber da soll es warm sein. Wir werden heiraten, ich im schwarzen Kleid und er im weißen Anzug. Ich sehe es genau vor mir.

Aber nicht er hat geschrieben, sondern eine Freundin, bei der ich mich über ihn ausgejammert habe. “Man soll nicht immer nur versuchen, was zu kriegen, sondern auch was geben.” Frechheit. “Aber ich habe ihm gegeben!”, schreibe ich zurück. “Ich hab ihm gegeben und er hat‘s mir gegeben.” “Nein”, antwortet sie. Ich soll allgemein geben. Im Leben. Nicht immer nur Ansprüche und Wünsche haben und so. Ich will aber nichts geben. Ich hab nichts zu geben. Er hat auch nichts zu geben, also wir hätten perfekt zusammengepasst.

“Er ist deiner nicht wert”, hat mein Ex gesagt. Also der Ex vor meinem Ex. Aber das stimmt nicht. Ich bin seiner nicht wert, sonst hätte er mich doch nicht verlassen. Warum soll denn der, der mich verlässt, meiner nicht wert sein? Es ist doch genau umgekehrt. Ich bin seiner nicht wert, ich bin nichts wert. Weil er mich nicht sieht, gibt es mich nicht. Ich bin eigentlich gar nicht mehr da, deswegen.

Ich muss sofort noch einen Flachmann exen, damit dieses schlechte Gefühl weggeht. Wenn er jetzt hier vorbeikommen würde und mich so sehen könnte, dann hätten wir alle den Beweis dafür, dass ich seiner nicht wert bin.

Bevor das passiert, gehe ich schnell wieder nach Hause und sehe in den Spiegel. Ich bin so hässlich. Aber er hat gesagt, dass ich schön bin. Er hat gesagt, dass ich schöne Augen habe. Aber meine Augen sind hässlich. Rot und trübe und verquollen. Wenn ich wirklich schöne Augen hätte, hätte er mich behalten. Augen.

Immer wenn ich Augen sehe, muss ich an ihn denken. Er hatte auch Augen. Diese verfickte widerliche stinkende Ratte, die mich verlassen hat, hatte auch Augen. Diese verfickte widerliche stinkende Ratte die mich verlassen hat. Ich will sie wiederhaben.

Headerfoto: Frau in der Dusche via Shutterstock.com. (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Dieser Text erschien zuerst hier.

RUTH HERZBERG ist Autorin aus Berlin. Manchmal zeichnet sie auch. Webseite: frauruth.de und Facebook-Fanpage: www.facebook.com/FrauRueth. Jeden Mittwoch findet man sie zusammen mit Jacinta Nandi und Clint Lukas ab dem 21.08. bei Schuld und Bühne in der Kohlenquelle in der Kopenhagener Straße. Die Live-Talks gibt es hier als Podcast hier. // Autorinnenfoto: Hannah Herzberg.

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