Vorfreude

Ich höre Jealous von Labrinth in der wunderschönen Version von Marcel Staudinger und schaue aus dem Fenster. Schaue aus dem Fenster und sehe die nördliche Route des M48 an mir vorbeiziehen. Ich sehe den Fernsehturm, wie er abwechselnd in grün und blau angestrahlt in den spätabendlichen herbstlichen Himmel Berlins hinaufragt, den Potsdamer Platz und die Lichtinstallationen an der gläsernen Bürofassade und vor dem S-Bahnhof.

Ich sehe herausgeputzte Gutbürgerliche, die gerade aus einer Veranstaltung in der Philharmonie in den Bus strömen. Ich sehe eine etwas verbraucht aussehende Alkoholikerin, die neben mir sitzend den Bus mit ihrer Fahne füllt. Ich sehe hippe junge Leute in enger Röhre und unscheinbare ältere Leute in bequemen Chinos.

Ich sehe Singles, die so wie ich mit Kopfhörern im Ohr oder ihrem Smartphone vor der Nase auf dem Weg irgendwo hin sind. Vielleicht auf die nächste Party. Vielleicht zum bereits zweiten Tinderdate an diesem Abend. Vielleicht zu ihrem Partner. Vielleicht, so wie ich auch, einfach nur nach Hause.

Und ich sehe verliebte Paare. Paare, die sich aneinander kuscheln, um sich an diesem kalt-nassen Herbstabend gegenseitig zu wärmen. Frisch verliebte Paare, deren Schmetterlinge im Bauch sich durch ihre Kleidung abzeichnen. Vertraute Paare, die mit jeder ihrer Bewegungen ausdrücken, dass sie zusammen gehören.

Ich sehe Männerarme, die sich schützend um die Schultern ihrer Freundin legen. Frauenarme, die sich vertraut um den Leib ihres Liebsten legen. Ich sehe Lippen, die spielerisch nach den Lippen des anderen suchen. Lippen, die sich finden. Ich sehe Augen, die blitzen. Augen, die anhimmeln und ohne Worte alles sagen. Ich bin allein unterwegs während des Festivals of Lights an einem Freitagabend im Herbst.

Man könnte meinen, ich fühle mich einsam. Man könnte meinen, ich sehne mich auch nach Armen, die beschützen, nach Lippen, die suchen und nach Augen, die blitzen. Vielleicht tue ich das auch. Doch ich bin glücklich dabei. Man könnte meinen, ich sei neidisch auf die Verliebten. Vielleicht bin ich das auch ein wenig. Doch ich freue mich auch aufrichtig für jeden einzelnen von ihnen.

Man könnte meinen, das Festival of Lights an einem Freitagabend im Herbst sei etwas für Verliebte. Nichts für Singles. Nichts für Seelen, die mit Jealous im Ohr und dem Handy in der Hand einfach nur nach Hause fahren. Man könnte meinen, dies sei die Zeit, in der man als Single melancholisch darüber nachdenkt, warum man selbst niemanden hat, während alle um einen herum verliebt zu sein scheinen.

Doch Irrtum. Denn auch ich bin verliebt. Verliebt in die Menschen um mich herum. Verliebt in die Straßen Berlins. Verliebt in die Farben und Lichter. Verliebt in den Moment. Den Moment, in dem Arme schützend um Schultern gelegt werden, in dem Lippen sich treffen und Augen anhimmeln. Und dann beginne ich, mich darauf zu freuen. Mich auf dich zu freuen.

Ich freue mich auf die erste Begegnung mit dir. Darauf, wie sich unsere Blicke wie zufällig treffen und aneinander haften bleiben werden. Einer von uns wird den Blick schüchtern senken, weil er nicht dabei ertappt werden möchte, wie er anhimmelt, um dann im nächsten Moment bereits wieder vorsichtig aufzublicken. Auf das erste schüchterne Lächeln, welches unmittelbar von dem anderen erwidert werden wird. Wie das Herz anfangen wird, wie wild zu schlagen, nur weil sich unsere Arme zufällig berühren.

Darauf, wie ich wie ein Vollidiot nach Worten ringen werde und du es einfach nur süß finden wirst. Wie du verlegen versuchen wirst, einen guten Eindruck auf mich zu machen und dich verhaspelst, während es mir ganz egal ist, was aus deinem Mund kommt, weil ich mich schon längst in deinem Lächeln und deinen Augen verloren habe.

Ich freue mich darauf, dir zu schreiben und auf die Aufregung danach, weil ich nicht weiß, wann du mir antworten wirst. Darauf, dann festzustellen, dass keiner taktiert und drei Tage wartet, weil er sich genauso nach dem anderen sehnt, wie man selbst. Ich freue mich darauf, am Tag unseres Dates nicht zu wissen, was ich anziehen soll. Darauf, all meine Kleidung auf dem Sofa auszubreiten und meine Mitbewohner um Rat zu fragen. Darauf, meine Freundin noch drei Mal anzurufen, bevor wir uns treffen, um ihr zu erzählen, wie aufgeregt ich bin.

Ich freue mich auf die Minuten vor dem Date. Darauf, dass mir schlecht sein wird. Darauf, zum fünften Mal auf die Toilette zu müssen, und das obwohl ich gerade erst war. Darauf, Angst zu haben, dass ich während des Dates trotzdem noch mal muss. Darauf, mein Spiegelbild mittlerweile zum zigsten Mal zu checken.

Ich freue mich auf den Moment, in dem es laut Öffi-App Zeit loszugehen wird, um die Bahn zu bekommen, die mich zu unserem Treffpunkt bringen soll. Schließlich habe ich das vorher mindestens 50 Mal gecheckt. Ich freue mich auf den Weg zum Bahnhof und die Aufregung in der Bahn. Darauf, das Gefühl zu haben, alle anderen Fahrgäste würden einem ansehen, dass man grad nervös auf dem Weg zu einem ersten Date ist.

Ich freue mich auf die Millionen Schmetterlinge, die im Moment des Wiedersehens in meinem Bauch umher schwirren werden und darauf, dir dann schüchtern und grinsend Hallo zu sagen, unbeholfen, unsicher und aufgeregt. Auf den Kuss auf die Wange, den du mir dann geben wirst. Ich freue mich auf den gemeinsamen Abend mit dir, an dem wir die Zeit vergessen und einfach nur sein werden. So wie wir sind.

Ich freue mich auf unsere stundenlangen Tiefgänge und darauf, wie sich immer mehr das Gefühl einstellen wird, dass alles richtig ist so wie es ist. Darauf, mit dir auf dem S-Bahnhof zu stehen, auf dem wir vor wenigen Stunden schon einmal standen. Darauf, gemeinsam auf unsere Bahnen zu warten, die uns in verschiedene Richtungen nach Hause bringen werden. Auf den Moment, in dem die erste Bahn in den Bahnhof fahren wird und es eigentlich an der Zeit wäre, dass einer von uns einsteigt.

Doch derjenige wird sagen: „Ich kann auch auf die nächste warten.“ Wir werden noch eine Weile dort stehen und miteinander schweigen. Und grinsen. und schweigen. Weil keiner von uns will, dass der Abend schon endet. Ich freue mich auf den Moment, in dem du mir mit deinen strahlenden Augen und deinem süßen Lächeln, in das ich mich im ersten Moment verliebte, tief in die Augen schauen wirst. Darauf, wie innerlich alles zu zittern und zu beben anfangen wird, weil ich genau weiß, welche Art Moment das jetzt ist. Mir wird heiß und kalt zugleich sein.

Ich werde mich so schön wie nie fühlen und gleichzeitig unglaublich unsicher sein. Mein Mund wird trocken sein und ich werde so unauffällig wie möglich versuchen, meine Lippen noch mal kurz zu befeuchten. Aber nicht zu feucht, schließlich sollen sie auch nicht triefen, werde ich denken. Und da nimmst du auch schon mein Gesicht in deine beiden Hände und unsere Lippen treffen sich.

In mir wird es kribbeln und mein Herz wird springen. Sie scheinen perfekt aufeinander zu passen. Es wird kein Einspielen nötig sein zwischen uns. Es wird einfach passen. Ich freue mich auf den Moment nach dem Kuss, in dem du mich zu dir ziehen und schützend deinen Arm um mich legen wirst. Auf den Kuss auf die Stirn. Ich werde hoffen, dass meine Bahn, die in zwei Minuten kommen soll, uns noch Zeit für einen zweiten Kuss lässt. Und das tut sie. Bevor wir uns für diesen Abend endgültig verabschieden, werden wir uns noch einmal küssen.

Ich freue mich darauf, mit dem Gefühl danach freudetrunken in meine S-Bahn zu taumeln, immer wieder den Blick über meine Schulter wagend, um zu sehen, ob du noch da stehst und mir hinterher schaust. Ich freue mich darauf, wie ich mich, dir noch einmal schüchtern zuwinkend und grinsend, in einen Vierer setzen werde und glauben werde, dass alle Menschen um mich herum genau wissen, dass ich grad von einem ersten Date komme, welches auch noch gut bis perfekt gelaufen ist. Darauf, diese ganzen Menschen und auch den Rest der Welt umarmen zu wollen.

Ich freue mich auf zu Hause, wie ich vor meiner Wohnungstür verträumt meine Schlüssel aus meinem verkramten Jutebeutel fischen und schließlich glücklich die Tür aufschließen werde. Darauf, wie mein Mitbewohner mich nur verschmitzt angrinsen wird, ohne etwas zu sagen, wenn ich die Wohnung betrete. Darauf, wie ich in meinem Zimmer angekommen zufrieden auf mein Sofa sinken werde. Ich werde kurz mit mir hadern, ob ich dir schreiben soll, wie schön ich den Abend fand, oder ob das zu viel fürs erste Date sein könnte und da ertönt auch schon der WhatsApp-Ton meines Handys:

„Ich freue mich auf dich“, wirst du schreiben.

Sabine ist Ur-Berlinerin und mit ihren 27 + fünf Lebensjahren so langsam irgendwo in der gesunden Mitte zwischen esoterischer Hippiebraut und spießiger Ottonormalbürgerin angekommen. Sie ist hoffnungslose Romantikerin, was sie sich selbst ungern eingesteht. Sabine fürchtet sich vor Stagnation und Humorlosigkeit und versucht stets, sich selbst und das Leben nicht all zu ernst zu nehmen, was ihr mal mehr und mal weniger gut gelingt. Wenn sie nicht grad versucht, die Welt zu verbessern, trifft sie sich mit ihren Freunden, versinkt bei philosophischen und auch seichten Gesprächen in der ein oder anderen Bierflasche, schaut gern gute und auch schlechte Filme, liest und malt, zeichnet oder schreibt sich ihre Gedanken von der Seele.

Headerfoto: Joe St.Pierre via Creative Commons Lizenz 2.0. (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

imgegenteil_Sabine

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