Ich bin ein offenes Buch. Trage mein Herz auf der Zunge. Manchmal ein wenig zu laut. Manchmal ein wenig zu direkt. Und nein, ich bin kein Bilderbuch. Bin nicht einfach zu verstehen. Bin eher so die gesammelten Werke von Immanuel Kant.
Und meine Worte kannst du lesen, doch verstehst du meine Sätze nicht. Nicht in Gänze. Nur Fragmente. Du kannst nicht verstehen, wieso ich manchmal pausiere. Im Leben oder nach einem Satz. Wieso meine Gedankenstriche auch manchmal Schlussstriche sind. Mit schwarzem Edding signiert. Eingraviert im Leben. Wieso ich an manchen Punkten im Leben ein Ausrufezeichen setze. Oder vielleicht auch zwei. Und wieso ich Fragezeichen fraglich finde.
Und du blätterst durch das Inhaltsverzeichnis. Machst halt bei den spannenden und aufregenden Kapiteln, doch überspringst du die traurigen. Zelebrierst die Ups, doch ignorierst die Downs. Du liest die Überschriften, doch verstehst nicht, was da eigentlich wirklich hinter steckt. Kannst nicht differenzieren zwischen Schein und Sein. Zwischen Fantasie und Realität. Denn dich interessiert nur die Good Time. Wenn das Leben lacht und die Schlagzeilen sonnig bis heiter sind. Und du versuchst, meinem Buch einen Titel zu geben. Kurz und prägnant muss er sein. Catchy, aber nicht trashy. So hast du es gern.
Und du versuchst, meine Worte in deine Sprache zu übersetzen. Kannst Wörterbücher und Enzyklopädien verfassen. Versuchst zu dolmetschen. Zerlegst akribisch meine Worte. Silbe für Silbe. Buchstabe für Buchstabe. Doch selbst nach all den Analysen werden sie nie Sinn für dich ergeben. Denn du und ich, wir beide, wir sprechen sehr unterschiedliche Sprachen.
Kannst versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, aber du wirst immer nur ein verschwommenes und unklares Bild bekommen. Wirst mal in den Zeilen verrutschen. Wieder nur einen Ausschnitt verstehen. Zurückgehen in der Zeile, um doch wieder von vorne anzufangen. Weil du die Dinge aus deinem Blickwinkel siehst. Missinterpretationen farbig illustrierst. Dein Blickwinkel ist ein verdammtes Kaleidoskop.
Und du kannst lesen, wie ich über jedes kleinste Detail schreibe. Aber dich haben Details nie wirklich interessiert. Warst eher der Mann fürs Grobe. Und so wirst du mich nie in Gänze verstehen. Weil für dich nur das große Ganze zählt. Das Big Picture. Und hier liegt es nun. Mein Buch. Aufgeschlagen. Kannst Seite für Seite durchblättern. Kannst Stellen hervorheben. Mit neongelbem Marker. Seiten mit Eselsohren markieren. Doch das einzige, was bleibt, ist die Tinte auf dem Papier.
Und inmitten des Buches gibt es ein paar Seiten von dir und mir. Unser Kapitel. Manche Seiten sind herausgerissen. Und manche Seiten sind vollgekritzelt mit deinem Namen. Mit Herzen versehen. Manche mit Tränen gespickt, ungewiss, ob vor Freude oder Traurigkeit. Das weiß man bei dir ja nie so genau. Meine Worte in fett gedruckt. Oder in kursiv. Aber niemals regulär. Denn durchschnittlich waren wir nie.
Und dann gab es da den Moment, wo ich mich fühlte wie ein Mängelexemplar. Ausrangiert. Wegen Fehlern aussortiert. Wiederzufinden auf dem Grabbeltisch der Zurückgelassenen. Denn was du suchst, war Premium. Hardcover mit glänzendem Einband und dickem Papier.
Doch es ist mehr nötig, als mich aus der Ferne zu lesen. Mehr nötig, als ein paar Worte von mir auswendig zu lernen. Rezitierend vor mir stehend. Es ist mehr nötig, als mein Buch aufzuschlagen und nur zu überfliegen. Doch du warst nie mutig genug. Nie waghalsig genug, meine Geschichte bis zum Ende zu lesen. Seite für Seite. Unsere Geschichte zu Ende zu schreiben, das Kapitel zu beenden und das Buch zu schließen.
Headerfoto: ▲ r n o via Creative Commons Lizenz 2.0! (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
