Mittwoch.
Ich nehme den letzten Schluck Kaffee und schaue in den Spiegel. Alles gut. Ich gehe los. Warum nervst du mich schon wieder damit? Dein ewiger Wunsch nach Diskussion und Aufklärung! – Können wir nicht einfach mal Ruhe haben?
Lügen.
Ich bin müde und genervt. Du setzt dich neben mir aufs Bett und weinst. Schon wieder. Ich atme tief durch und möchte wissen, was los ist. „Warum kommentiert sie all deine Bilder? Warum schreibt sie dir immer?“ Mein Herz rast. Mist! Tausend Gedanken. „Ach, keine Ahnung. Ich kann doch auch nichts dafür!“ Du weinst noch immer, noch intensiver und nun tust du mir leid. Ich versuche dich zu trösten und dich zu überzeugen, dass du dir keine Sorgen machen musst. Es ist eine Lüge. Du schaust in den Spiegel und wischt dir die Tränen weg.
Mal wieder.
Ich lüge dir ins Gesicht. Schon wieder. Natürlich tust du mir leid. Natürlich möchte ich nicht, dass es dir schlecht geht. Dass du weinst. Und dennoch ist es nicht das erste und gewiss nicht das letzte Mal. Ich lüge dich immer wieder an, weil ich weiß, dass ich dich nicht glücklich machen kann. Ich kann nicht der Mann sein, den du dir wünscht, den du brauchst. Ich versuche es nicht mal. Meine Lügen überzeugen sogar mich. Ich glaube an diese Worte und so geht es mir gut damit.
Ich.
Vielleicht könnte ich anders sein. Ich will mich aber nicht ändern. Ich kann in den Spiegel schauen und bin zufrieden mit mir. Das ist ja wohl das wichtigste. Zufrieden mit dem Menschen sein, der ich bin. Ich bin ehrenamtlich aktiv. Die Uni fällt mir nicht schwer. Viele Menschen finden mich gut. Viele Frauen. Mir gefällt mein Spiegelbild. Der Spiegel lügt nicht.
Doch.
Ein Jahr ist nun vergangen. Du hast mich verlassen. Zuerst war ich am Boden zerstört. Wollte dich zurück. Alle fanden dich gut und schön. Du bist nun glücklich mit einem anderen Mann. Meine Fehler, all der Schmerz, den ich dir zugefügt habe, haben dich in seine Arme getrieben. „Die beiden gehören zusammen“ – mit diesem Gedanken kann ich leben. Du hast es verdient. Immerhin wolltest du ja nie etwas anderes als einen Mann, der dich liebt. Der das selbe möchte. Ich stehe vor dem Spiegel und sehe mich minutenlang an. Das Jahr ohne dich hat mich gezeichnet. Ich sehe tatsächlich älter aus. Irgendwie müde.
Eine andere Stadt.
Es muss sich etwas ändern. Ich habe meine Sachen gepackt und die Stadt verlassen. Nun bin ich hunderte Kilometer von dir entfernt. Noch nie habe ich so oft vor dem Spiegel gestanden und mir immer wieder die selbe Frage gestellt: „Wer bin ich überhaupt?“
Nicht.
Tag für Tag diese Frage. Tag für Tag komme ich der Antwort ein wenig näher. Dieses Jahr hat mich geprägt. Ich denke nicht an dich. Ich vermisse dich nicht. Und dennoch bin ich so nachdenklich, wie ich es noch nie war. Ich versuche, mich zu verstehen. Meine Taten. Meine Worte. All meine Lügen. Ich habe mich nie entschuldigt. Mein Spiegelbist ist verzerrt. Ich bin Müde.
Lange Nase.
Der Spiegel hat mich angelogen. Ich bin eine optische Täuschung. Nun weiß ich es, und das ist gut. Ich verstehe es nun. Verdammt noch mal! Wie konnte ich mich nur mögen? Das ist Wahnsinn. Selbstverliebt. Egoismus. Ich denke jeden Tag darüber nach. Ich mag mein Spiegelbild nicht mehr. Ich denke weiter nach. Wochenlang. So viele Gedanken. Überall Spiegel.
Bald.
Ich arbeite an mir. Es ist schwer, aber ich tue es. Nicht für dich. Nicht für mein Spiegelbild. Für mich. Nur für mich. Irgendwann bekomme ich die Möglichkeit, alles anders zu machen. Ich freue mich darauf. Tag für Tag. Doch bis dahin schaue ich weiter in den Spiegel. Ich schaue mich an. Viel länger als noch vor einem Jahr.
Er und ich.
Nur wir beide.
Wir lügen nicht mehr.
Headerfoto: Leanne Surfleet via Creative Commons Lizenz 2.0! (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
