Die Kunst des schlechten Lügens

Ich war schon immer ein großer Freund der kleinen Lüge. Bereits sehr früh habe ich die Erfahrung gemacht, dass man sich jede Menge unnützer Diskussionen und Belehrungen ersparen kann, wenn man hier und da die Wahrheit ein klein wenig zurechtbiegt. Nehmen wir beispielsweise die Frage, ob ich im Kindergarten alle Brote aufgegessen hatte – da gab es zwei mögliche Antworten. Falls ich gerade Lust darauf gehabt hätte, mir das hundertste Remake des Märchens von den hungernden Kindern in der dritten Welt erzählen zu lassen, so hätte ich einfach nur die Wahrheit zu sagen brauchen: Dass es viel zu viele Brote gewesen seien mit viel zu wenig Butter und Käse und Salami, dass ich nur gerade so viel davon gegessen habe, dass ich nicht verhungere und dass ich den Rest weggeworfen habe, um das Zeug nicht beim Abendbrot erneut vorgesetzt zu bekommen, da würden sie mir dann sicher auch nicht besser schmecken. Oder ich antwortete mit einem schlichten „Ja“ – keine Diskussionen, keine Belehrungen. Mama war zufrieden – ich hatte meine Ruhe.

Als ich in den kommenden Jahren weiter an meinen Fähigkeiten arbeitete, fiel mir auf, dass es Dinge gab, die man allein durchs Lügen nicht erreichen konnte. „Mama, ich will nicht zur Schule, ich bin krank.“ Mir war zu Ohren gekommen, dass andere Kinder es regelmäßig mit diesem plumpen Trick versucht hatten, der natürlich sofort durchschaut worden war. Es ist der Klassiker, Eltern sind darauf vorbereitet – so etwas konnte ich mir nicht leisten. Ich war geschickter als die anderen. Ich nahm abends eine Rolle Toilettenpapier mit ins Bett, zerknitterte ein paar Blätter davon und versteckte das Ganze Zeug an irgendeiner Stelle, wo es sicher gefunden werden würde. Ich hustete unauffällig ein bisschen im Bad, wenn die Tür geschlossen war, damit es so aussah, als würde ich auch das Husten verstecken wollen. Und wenn ich gefragt wurde, ob es mir nicht gut gehe, antwortete ich energisch: „Doch doch!“, als hätte ich tatsächlich gehofft, dass man mir glaubte. „Ich merke doch sofort, wenn du nicht die Wahrheit sagst. Du bist kein guter Lügner!“, hörte ich meine Mutter dann sagen. Ich hatte alles richtig gemacht, das Ziel war in greifbarer Nähe. Jetzt brauchte ich nur noch ein bisschen zu jammern, dass ich doch viel lieber zur Schule gehen würde, als den ganzen Tag auf der Couch zu liegen und mich zu langweilen, und den richtigen Punkt abzupassen, um mich am Ende doch geschlagen zu geben.

Die Kunst des schlechten Lügens bringt nicht nur Vorteile, wenn es darum geht, etwas zu bekommen, was man sonst nicht haben kann. Wie ich es schon angedeutet hatte – meine Mutter war zu der Überzeugung gelangt, sie wüsste sofort, wann ich nicht die Wahrheit sagte – wiegt es das Gegenüber in Sicherheit und bekräftigt die eigene Glaubwürdigkeit, wenn man es mit der Wahrheit dann doch nicht so genau nimmt. Dieser Aspekt gewinnt natürlich stark an Bedeutung, wenn es darum geht, eine harmonische Beziehung aufrecht zu erhalten. Wer sich beim Lügen nicht erwischen lässt, erweckt Misstrauen. Mein Eindruck ist, dass gerade Frauen sich gern einbilden, sie könnten ihren Partner bei jeder Lüge ertappen, weil sie ein Gespür dafür hätten. Wenn ich eine Partnerin habe, versuche ich natürlich, sie in diesem Glauben zu bestärken. Ich suche mir bewusst ein paar Kleinigkeiten im Alltag, in denen eine kleine Lüge sinnvoll erscheint, sie mir aber keinen großen Ärger einhandeln wird, wenn ich erwischt werde. Und ich werde sicher erwischt – das ist schließlich der Sinn dieser Übung. Hier ein Beispiel:

„Hast du den Brief zur Post gebracht, den ich dir heute Morgen mitgegeben habe?“
„Den … Brief. Den Brief, ja klar, den hab ich gleich als erstes eingesteckt, als ich losgegangen bin. Ich komme ja direkt am Briefkasten vorbei, wenn ich zum Bahnhof gehe.“

Der gute schlechte Lügner sagt nicht einfach ganz beiläufig: „Ja klar.“ Nein, er sagt absichtlich ein paar Worte zu viel, denkt sich belanglose Details aus. Das ist es, was schlechte Lügner machen, wenn sie versuchen, glaubwürdig zu sein – und womit sie nur das Gegenteil bewirken. Außerdem meidet der schlechte Lügner unbewusst den Blickkontakt (oder er schaut dem Gegenüber betont klar in die Augen, was dann aber auch wieder Misstrauen hervorruft). Der Profi macht es genauso. Der einzige Unterschied ist, dass er es darauf anlegt, weiter befragt und am Ende erwischt zu werden. Zu beachten ist natürlich, dass es sich nicht um einen wirklich wichtigen Brief handeln sollte. Die ideale Gelegenheit für eine schlechte Lüge lässt sich, nachdem man erwischt wurde, mit einem reumütigen Dackelblick und einem schlichten „Ja, tut mir leid …“ ganz einfach wieder gerade rücken.

Gerade in meiner letzten Beziehung habe ich häufig auf meine gute Ausbildung im Bereich des Wahrheitsmanagements zurückgreifen müssen. Meine Freundin war eine Spezialistin, wenn es darum ging, potenzielle Konkurrentinnen möglichst früh zu erkennen, um dann besser schlechter über sie reden zu können. Dabei folgte sie dem gleichen Grundsatz wie einst die Heilige Inquisition bei der Entlarvung von Hexen: Lieber eine Hetzjagd zu viel, als zu wenig. Sicher ist sicher. Natürlich muss ich mich an dieser Stelle fragen, wie ich zu einer solchen Freundin gekommen bin, wo ich doch Eifersucht auf den Tod nicht ausstehen kann, aber das tut hier nichts zur Sache. Viel interessanter ist die Frage, wie man am besten mit einer notorisch misstrauischen Partnerin umgehen sollte. Ich empfehle an dieser Stelle eine ganz einfache Strategie, mit der ich sehr gute Erfahrungen gemacht habe: Immer, wenn wir uns über andere Frauen unterhielten, von denen sich meine Freundin in irgendeiner paranoiden Weise bedroht fühlte, musste ich sie am Ende von der Unwahrheit überzeugen. Das Ganze begann stets damit, dass ich erst mal jegliches Interesse an der betreffenden Dame leugnete. Je nachdem, ob diese mir tatsächlich positiv aufgefallen war, oder eben nicht, ließ ich mich dann eben bei der Lüge ertappen – oder auch nicht.

„Du hast dich vorhin aber ziemlich lange mit Steffi unterhalten. Ich hab gemerkt, dass sie dir gefällt!“
„Steffi? Wie kommst du denn darauf? Wir haben einfach nur ganz normal miteinander geredet. Das heißt doch nicht gleich, dass sie mir gefällt!“ – Erwischt!
„Kannst doch ruhig zugeben, dass du sie attraktiv findest. Ist doch nichts dabei. Übrigens, sind dir mal ihre Augenbrauen aufgefallen? Die sahen echt aus wie aufgemalt, findest du nicht?“

Den Partner beim Schwindeln zu erwischen gibt eifersüchtigen Menschen eben dieses Gefühl der Sicherheit, in der man sie gern wiegen möchte. Außerdem wirkt die andere Frau, die Konkurrenz, die Feindin gleich viel weniger bedrohlich, wenn man erst einmal ein klares Bild von ihr vor Augen hat. Deshalb empfiehlt es sich, ab und zu noch einen kleinen Tropfen Öl ins Feuer tröpfeln zu lassen:

„Diese Party, auf die du da eingeladen bist – Steffi ist doch bestimmt auch da, nehme ich an?“
„Weiß ich nicht. Wieso sollte ich das wissen? Ich verstehe auch gar nicht, warum du das fragst!“
Auf der anderen Seite musste ich natürlich auch vorbereitet sein, als meine Freundin auf Caro zu sprechen kam:
„Diese Caro hatte schon echt lange Beine, findest du nicht auch?“
„Caro? Die mit Jenny zusammen angekommen ist? Beine, ja. Die sehen schon ganz gut aus, aber mein Typ ist die nicht. Viel zu aufgetakelt.“
„Nee, das war doch Beate, die Freundin von Jenny. Ich meinte Caro. Die mit den langen blonden Haaren. Die hatte so ein dunkelgrünes Oberteil an.“
„Ach die Blonde. Ja, die Beine. Stimmt.“

Ach ja, meine Ex-Freundin. Irgendwann hatte ich zum Glück genug von diesen ganzen Spielchen. Mir kam der erleuchtende Gedanke, dass es doch viel schöner wäre, mit einer Frau zusammen zu sein, die ich gar nicht belügen muss.

„Caro? Die große Blonde mit dem grünen Oberteil? Klar sind mir die Beine aufgefallen, schon irre sexy.“

Wäre das nicht schön? Den ersten Schritt dahin habe ich bereits unternommen: Ich habe mich von dieser Freundin getrennt – oder sie sich von mir, wie man es nimmt. Ausschlaggebend war meine Entdeckung, dass ich nicht nur gut darin bin, schlecht zu lügen – ich bin sogar noch besser darin, schlecht die Wahrheit zu sagen! Die Wahrheit war in diesem Fall, dass ich an einem Samstagabend mit Freunden unterwegs gewesen war. Steffi allerdings war nicht dabei gewesen, wie meine Freundin argwöhnte. Ich hatte mich auch nicht an Steffi rangemacht, die gar nicht dabei gewesen war, und hatte sie auch nicht noch bis nach Hause gebracht. Nicht einmal zu dem Kaffee, der mir von Steffi gar nicht angeboten worden war, als sie mich überhaupt nicht gefragt hatte, ob ich noch kurz mit raufkommen wollte, hatte ich mich überreden lassen.

Zum Glück glaubte meine Ex mir kein einziges Wort.

Raffael ist vor neun Jahren 18 geworden und widmet seine Zeit nun dem Studium der menschlichen Psyche, meistens seiner eigenen. Die Semester zählt er nicht mehr mit, er hat es halt nicht so mit Zahlen. Um das herauszufinden, hatte er allerdings erst zwei Semester lang Mathematik studieren müssen. Dass Bridge seine große Leidenschaft ist, möchte er lieber nicht verraten, man könnte ihn sonst nämlich für langweilig halten. Das wiederum erschwert die Partnersuche. Seine Kurzgeschichten sind alles andere als langweilig. Wie sollten sie auch – meistens geht es schließlich um Sex.

Headerfoto: Olly Coffey via Creative Commons Lizenz!

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