Von schlechten Großstadtküssen

Vor Jahren wohnte ich eine Weile in Berlin. In einem der überteuerten und hippen Viertel mit zu vielen Touris und noch mehr Zugezogenen wie mir. Eine wichtige Zeit. Ich hatte das Gefühl, alles sei möglich, lebte frei und aus dem Bauch heraus. War dabei, mich selbst wieder zu finden. Neue Seiten an mir zu entdecken. Mehr zuzulassen. Mich sexuell auszuprobieren gehörte für mich auch dazu. Ich hatte Dates, lernte durch sie noch mehr über mich und was ich wollte. Was ich nicht wollte. Von Männern. Von Frauen. In dieser Zeit machte ich einige meiner wichtigsten Erfahrungen in Sachen Sex.

Irgendwo zwischen Käsetheke und Spirituosenabteilung lernte ich Paul kennen. Paul war gutaussehend, groß und einer der Männer, die äußerlich nicht alt werden. Wir  tauschten unsere Nummern und trafen uns eine Woche später wieder. Wir verstanden uns gut. Richtig gut. Saßen in der warmen Frühlingsluft rauchend am Kanal in Neukölln bis es dunkel wurde. Redeten über Musik, unsere Träume, das Leben. Noch heute denke ich gerne daran zurück. Er war wunderbar entspannt, unkompliziert, anziehend. Eigentlich also ein super Typ. Eigentlich sogar der perfekte Kandidat, um sich in eine kleine Liaison zu stürzen. Eigentlich hätte alles so schön sein können. Eigentlich. Denn die Geschichte hatte einen entscheidenden Haken: Er konnte nicht küssen. Wirklich gar nicht küssen. Also mich nicht. Und ich ihn nicht. Es war das Gegenteil von passend.

Ich weiß noch genau, wie wir an unserem zweiten Date in einer süßen Bar in Kreuzberg auf einem Sofa immer enger zusammenrückten und uns tief in die Augen schauten. Verheißungsvoll. Vielversprechend. Dieser Moment war so aufgeladen, so prickelnd. Langsam näherten sich unsere Münder. Zentimeter für Zentimeter, bis sie endlich zusammen trafen. Und dann nahm das Grauen seinen Lauf. Ich weiß nicht, wie er es anstellte, aber irgendwie formte er seinen Mund vogelartig zu einem Schnabel. Gleichzeitig hat er es hinbekommen, dabei viel zu viel Spucke zu verlieren, als er anfing, meine Lippen zu picken. Ja, eine andere Beschreibung dafür fällt mir beim besten Willen nicht ein. Ein sehr, sehr feuchtes Picken. Furchtbar.

Als er – warum auch immer – in Fahrt kam, wurde aus dem Picken ein ausladendes Schnappen. Ein halb aufgerissener Mund stürzte sich angriffslustig auf meinen und hinterließ nach dem Zuschnappen eine weitere Sabberspur. Abwechselnd dazu setzte er seine Zunge ein. Tief und wulstig drang sie in mich ein. Mein Würgereflex ließ grüßen. Seine Kusstechnik war dabei so dominant, dass ich das Gefühl hatte, mit meinen Gegenangeboten nicht durchzudringen. Im wahrsten Sinne. Paul war überall. Es schien ihm zu gefallen. Ich brach aber irgendwann frustriert ab und ging bald nach Hause. Manno! So ein toller Mann und dann das?

Dabei liebe ich Knutschen so sehr. Ich könnte das stundenlang machen. Küsse mit dem perfekten Zusammenspiel aus einigermaßen trockenen (!) Lippen und dem richtigen Zungeneinsatz sind das Schönste. Mal verspielt mit den Zungenspitzen und ja, auch mal tief und eng umschlungen. Zwischendurch immer wieder die Lippen, die sich liebkosen, sich gegenseitig anknabbern, aneinander saugen. Aber das? Das war nichts. Für mich jedenfalls nicht. Grundsätzlich gibt es sicher für jeden Küsstyp auch das passende Gegenstück. Auch für Paul. Ich bin das aber leider definitiv nicht. Schade.

Ein paar Monate später ist Sommer. Mein bester Berlinfreund feiert seinen Geburtstag in unserer Stammkneipe am Boxi. Alle sind da. Wir legen 90er-Jahre-Trashmukke auf, liegen uns in den Armen, tanzen und singen laut mit. Auf einmal ist Paul da. Sein Kumpel kennt meinen Kumpel und so weiter. In Friedrichshain ist die Welt eben wirklich nur ein Dorf. Er sieht immer noch so toll aus, begrüßt mich genauso euphorisch wie ich ihn und lässt sich sofort von unserer Stimmung mitreißen. Als wir irgendwann völlig atemlos und verschwitzt an der Bar stehen, sehe ich ihn an und denke an unsere beiden Dates. Das war schon ziemlich cool damals mit Paul. Aber warte, da war doch irgendwas? Ach ja, das mit dem Küssen. War es wirklich so schlimm? Kann doch nicht sein. Ich hab mich bestimmt nur nicht richtig drauf eingelassen. Wir finden uns augenscheinlich so toll, das kann uns doch nicht so im Weg stehen?

Ich öffne meine Wohnungstür. Schon im Hausflur sind wir übereinander hergefallen. Erst dachte ich: „Ach, so schlimm ist es diesmal gar nicht“, und irgendwie stimmt es auch. Wir sind bei „mit Wohlwollen ganz gut hinzunehmen“ angekommen. Wir landen auf meinem Bett, ziehen uns aus. Alles geht schnell. Seine Hände auf meinem Körper sind unerfahren. Es ist eher ein Wischen als zärtliches Streicheln.

Als er ein paar Minuten später in mich eindringt, fühlt es sich erst richtig gut an. Ich liege unten. Er auf mir. Dann fangen wir an, uns zu bewegen. Stille. Nur das Knarzen meines alten Bettes ist zu hören. Das habe ich wirklich noch nie erlebt. Was soll denn das jetzt schon wieder? Ein völlig anderer Takt. Ein einziges unkoordiniertes Aneinanderstoßen. Es ist schrecklich. Wenn ich mein Becken von unten auf ihn zu bewege, ist er mit seinem plötzlich schon wieder weg. Wenn ich es wieder absenke, werde ich urplötzlich von seinem schwungvoll in die Matratze geworfen. Ich versuche mein Bestes, mich auf seinen Rhythmus einzustellen, ihn vorherzusehen, aber es ist hoffnungslos. Schlimm genug, dass ich überhaupt darüber nachdenken muss. Ich weiß nicht, ob ich laut loslachen, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen oder die versteckte Kamera suchen soll. Wie können sich zwei Menschen nur so ungleich zueinander bewegen?

Ich gebe der ganzen Sache noch eine zweite Chance, indem ich mich auf ihn setze, aber selbst das will nicht gelingen. Wenn er wenigstens einfach nur da liegen würde, dann könnte ich ja den Rest übernehmen. Aber nein, er will aktiv mitmachen. Stößt wie ich vorher von unten nach oben und wir sind wieder da, wo wir angefangen haben. Es ist aussichtslos. Für mich jedenfalls. Er kommt ungefähr fünf Sekunden nach diesem Gedanken. Er bleibt nicht über Nacht. Die Verabschiedung ist irgendwie höflich. Miteinander leicht sein ging vorhin auf der Tanzfläche aber anders. Aber wir reden nicht darüber. Ist uns wohl beiden etwas unangenehm.

Rückblickend bin ich sehr dankbar über diese Erfahrung. Jahre später küsste ich einen Mann, den ich die Schildkröte nenne. Denn er küsste wie eben diese. Wie eine Schildkröte, die nach einem Salatblatt schnappt. So schnell Schildkröten eben schnappen. Und das ohne Zunge. Die lag einfach nur da. Diesen Mann fand ich mindestens so großartig wie Paul. Aber anders als mit Paul ging ich nicht mit ihm ins Bett. „Schlechte Küsse = schlechter Sex“ schrien meine Alarmglocken. „Das hatten wir doch schon, remember?“ Also sagte ich adé.

Zwischen Top und Flop liegen beim Sex bekanntlich Welten. Natürlich ist es großartig, wenn es von alleine sofort toll läuft. Ich mich gleich fallen lassen kann. Intuitiv weiß, was ihn anmacht. Er weiß, wie er mich anfassen soll. Aber das tut es leider nicht immer. Und das ist doch auch kein Problem. Gerade bei einem neuen Liebhaber, geht es vielleicht eher darum zu sehen, ob das Potenzial besteht, sich zukünftig eine schöne Zeit zu machen. So richtig, richtig gut werden meist erst die Male danach, wenn man sich etwas besser, aber auch noch nicht zu gut kennt.

Bei all dem bin ich für meine Lust selbst verantwortlich. Ich lege mich nicht einfach hin und lasse den Mann machen. Er ist nicht dazu da, zu erraten, was ich mag. Ich anders herum auch nicht. Wir sind auf unser gegenseitiges Feedback angewiesen. So habe ich irgendwann einfach angefangen, deutlicher zu werden, wenn mein Stöhnen, meine Körpersprache als „gerne mehr“- oder „bitte nicht so“-Signale nicht verstanden wurden. Ich nahm beispielsweise seine Hand, positionierte sie an der Stelle, wo sich tatsächlich meine Klitoris befand. Zeigte ihm die für mich angenehmen Bewegungen, den richtigen Druck. Gab ihm beim Lecken freundliche Hinweise, wenn nötig. „Mehr“, „ein bisschen weniger“, „das fühlt sich gut an“, „hör bitte nicht auf“.

Ich selbst finde es sexy, wenn mir ein Mann zeigt, wie hart ich seinen Schwanz anfassen soll. Mir sagt, was ihn geil macht. Ob er es schneller oder langsamer beim Blasen mag. Andersherum waren die Männer meist ebenso dankbar für meine Rückmeldung. Und um ehrlich zu sein, hätte ich auch keine Lust, mit jemandem zu schlafen, der an meiner Lust kein wirkliches Interesse hat,und beleidigt ist, wenn ich meinen Körper besser kenne als er. Denn ist das nicht genau das Reizvolle? Die eigene Lust und die des anderen kennenzulernen und sie gemeinsam zu erleben?

Ich kam nach Berlin für einen Neuanfang. Und den bekam ich. Ich lernte Spannendes über mich, meinen Körper, meine Sexualität. Hatte dabei witzige bis völlig absurde Dates. Tanzte durch die Straßen. Lachte aus vollem Herzen. Gewann die besten Freunde der Welt. Fand meine große Liebe wieder. Fand mich wieder. Danke, Berlin!

Headerfoto: Kissing couple via Shutterstock.com. („Sexy Times“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

ANNA ZIMT ist 33 Jahre alt, isst am liebsten salzige Pommes mit Mayo und fühlt sich sexuell befreiter denn je. Sie lebt in Hamburg, liebt erste Dates und Großstadtabenteuer. Einst Streetworkerin in Berlin, hat sie gerade zwei Bücher veröffentlicht: "In manchen Nächten hab ich einen anderen" (könnt ihr hier kaufen) und "Leck mich!" (könnt ihr hier kaufen). Frau Zimt ist in ganz unterschiedlichen Welten unterwegs. Ihr Zuhause hat sie aber schon vor vielen Jahren gefunden.

5 Comments

  • Ich habe lange nicht so gut gelacht wie heute,als ich den Artikel von Frau Zimt gelesen habe.Ich habe einen alten Freund wiedergetroffen.Früher küsste er ganz gut.Zwischenzeitlich war er Impotent und bevorzugte SM Sex.Küssen a la Schildkröte scheint jetzt modern zu sein.Aber auch beim Oral Sex und Petting sind manche Männer auf dem Stand von 1992 geblieben.Auch wenn sie noch so gut Aussehen,und hervorragend Golf Spielen,aber das gesamte Umfeld muss ich nicht haben.Dann lieber Single.

  • @Svenja

    Weise Entscheidung. Ich bin auch lieber für Verzicht als für Habenbuchungen auf dem Konto Lee(h)rgeld. Aber auch hier muss ich anfügen, nicht nur Männer küssen teilweise furchtbar…

  • So einen Schildkrötenküsser habe ich auch mal kennen gelernt! Er konnte überraschenderweise ganz gut lecken, aber insgesamt war der Sex schlecht.
    Ich sehe schlechte Küsse absolut als Warnsignal für schlechten Sex! Zwar bestätigen Ausnahmen die Regel, aber ich ich finde schlechter Sex ist Zeitverschwendung, deshalb gehe ich das Risiko lieber nicht ein. 😉

  • Liebe Frau Zimt,
    dieser Vergleich „Wie eine Schildkröte, die nach einem Salatblatt schnappt.“ hat mich laut zum Lachen gebracht. Herrlich! Genau diese Erfahrung hatte ich auch! Da hast du die perfekte Worte dafür gefunden. Vielen Dank für tolle Worte 😉
    Ganz viele Grüße
    Natalie

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