Von Realitäten, die nicht mehr zusammen passen wollen

„Ist die Realität vergänglich?“ Das soll wirklich die erste Frage meines Sinnfragen-Kombinators sein? 3.969 mögliche Fragen und ich bekomme ausgerechnet diese als erste? „Vergänglich“ kommt von Vergangenheit, vergehen. Bei einigen Situationen und Personen, von denen ich weiß, dass sie bereits Vergangenheit sind, vergeht mir echt alles. Weil es immer noch weh tut, dass sie vergangen sind, nicht mehr real.

Aber vielleicht waren sie das auch nie. Was ist real, was gehört zu der Realität? Aus meinem Studium weiß ich, dass es die eine objektive, für alle gültige und von außen festlegbare Realität nicht gibt. Jeder kreiert sich seine Wirklichkeit selbst.

Aber sollte es nicht dennoch auch im Kopf der anderen existieren, damit es auch real ist?

Also waren vielleicht auch die Situationen und Personen nur in meinem Kopf real? Nur für mich und nicht für die anderen? Das wäre irgendwie deprimierend, würde mich zweifeln lassen, an dem, was angeblich war. Aber fragt nicht auch Harry Potter Dumbledore im letzten Buch: „Ist das hier wirklich? Oder passiert es in meinem Kopf?“ Und Dumbledore antwortet: „Natürlich passiert es in deinem Kopf, Harry, aber warum um alles in der Welt sollte das bedeuten, dass es nicht wirklich ist?“ Sollte etwas nicht dennoch auch im Kopf der anderen existieren, damit es real ist?

Darüber habe ich lange Zeit sinniert, nachdem du ohne Vorwarnung unsere Beziehung beendet und unsere gemeinsame Realität zu einer Vergangenheit gemacht, mich auf meine eigene Realität ohne dich reduziert und an der vergangenen Realität zweifeln lassen hast.

Existierte unsere Liebe nur in meinem Kopf? Oder wie konnte es sein, dass deine Liebe so schnell vergangen war? Hatte nur ich mir die enge Verbindung in meinem Kopf zur Realität gemacht oder warum waren wir plötzlich so weit voneinander entfernt, unverbunden, immer weiter voneinander wegschwebend?

Diese Fragen machten mich schier verrückt, weil sie bedeuteten, dass ich anfing, nachträglich alles anzuzweifeln, was wir hatten.

Diese Fragen machten mich schier verrückt, weil sie bedeuteten, dass ich anfing, nachträglich alles anzuzweifeln, was wir gemeinsam gemacht hatten, was du zu mir gesagt hattest, wie wir uns gemeinsam anfühlten. Und das ging nun wirklich nicht. Ich musste daran glauben können, dass wir, als wir zusammen waren, beide auch Wirklichkeit, Realität waren, dass Liebeserklärungen, als sie ausgesprochen wurden, auch wirklich so gemeint waren.

Aber wie hatte es dazu kommen können, dass wir beide als Paar nun nicht mehr real waren? Ich erinnerte mich, auch mal gelernt zu haben, dass die Wirklichkeit sich mit jeder neuen Erfahrung einer Person verändern kann, weil jede neue Erfahrung vor den bisherigen Erfahrungen bewertet wird, wie sie dazu passt und ob sich durch sie die eigene Wirklichkeit verändert.

Und wenn die eigene Realität einem ständigen Veränderungsprozess unterliegt, wie können dann zwei Menschen wissen, dass sie noch dieselbe Realität miteinander teilen? Auch das hatte ich gelernt: Sie reden miteinander über ihre Wirklichkeiten, prüfen, ob sie zueinander passen und arbeiten an neuen gemeinsamen Erfahrungen. Und genau das hatten wir vor dem Ende schon länger nicht mehr gemacht.

Du hattest für dich wahrscheinlich schon länger gelernt, dass deine neue und meine alte Realität nie wieder zusammenpassen.

Kein Wunder, dass ich es also nicht hatte kommen sehen. Es gab ja durch mangelnde Kommunikation keine expliziten Anzeichen und die impliziten konnte ich mir in meinem Kopf hinreden, damit meine Wirklichkeit noch Sinn machte. Kein Wunder auch, dass du in meinen Augen kampflos gingst, denn du hattest für dich wahrscheinlich schon länger gelernt, dass deine neue und meine alte Realität nie wieder zusammenpassen.

Gibt es eine Möglichkeit, die Erfahrungen zu machen, bei denen ich mich mit der entstehenden Wirklichkeit wohl fühle? Aber was nützt das, wenn die Realität zwar in dem Moment wirklich, aber mit jedem neuen Moment schon wieder vergangen ist? Und würde ich mir nicht bewusst weh tun, wenn ich immer wieder meine Wirklichkeit mit der Realität meines Gegenübers abgleichen muss, nur um vielleicht festzustellen, es passt nicht mehr zusammen?

Sicher kann ich jedes Mal daraus lernen, aber zu welchem Schmerz? Vielleicht ist es also leichter, nur mit mir meine Realität zu klären und darin zu verweilen. Und wenn ich mich nur auf mich beziehe, mich auf andere weniger einlasse, muss ich auch weniger abgleichen und besser noch: Ich mache auch weniger Erfahrungen, die meine Realität erschüttern könnten.

Genau das tat ich, seitdem du weg warst. Aber mit dieser Realität geht es mir auch nicht gut. Denn ist es nur meine und die ist oft ziemlich einsam. Und die Realität der Einsamkeit schmerzt. Die der Zweisamkeit hatte auch schöne Erfahrungen, die ich meiner Wirklichkeit hinzufügen konnte. Die fehlen jetzt. Also macht mangelnde Erfahrung die Realität ärmer?

So stehe ich zwischen Losziehen und Erfahrungen machen und weiterhin Zurückziehen und Erfahrungen vermeiden, in der Hoffnung, auch den Schmerz zu vermeiden.

So stehe ich zwischen Losziehen und Erfahrungen machen und weiterhin Zurückziehen und Erfahrungen vermeiden, in der Hoffnung, auch den Schmerz zu vermeiden. Aber Zweisamkeit vermeide ich dadurch auch. Wie bekomme ich mich also dazu, mutig loszuziehen, neue Erfahrungen zu meinen alten zu machen und dies positiv zu bewerten? Wie kann ich hinauszugehen und jemanden finden, mit dem ich wieder eine Realität teilen und gemeinsam immer wieder eine neue schaffen kann?

Darauf hätte ich gern Antworten und ich weiß, dass ich diese bereits in mir habe, tief in meinem Wissen, meiner eigenen Wirklichkeit. Dazu brauche ich meinen Sinnfragen-Kombinator nicht, der sowieso keine Antworten hat, sondern nur weitere Fragen. Meine neueste: Ist Liebe scheiße? Es lässt mich schmunzeln, dass einem das Leben immer das vor die Füße kotzt, was man zum Lernen braucht. Ich bin gespannt, welche Kotze ich als nächstes bekomme. Ich habe nämlich beschlossen, morgen einfach vor die Tür zu gehen, um neue Erfahrungen zu machen …

Anneliese versucht seit 35 Jahren, nicht ständig auf dem Gedankenkarussell ihre Runden zu drehen. In letzter Zeit gelingt es ihr immer mal wieder, das Karussell anzuhalten, vom Gedankenschwein abzusteigen und stattdessen mit Gummistiefeln in Pfützen zu springen und Sonnenuntergänge allein oder auch zu zweit zu genießen. Sie ist fest überzeugt, dass ihr irgendwann, wenn sie ein großes Mädchen ist, das mit der Liebe und dem Sich-Fallen-Lassen auch noch gelingt.

Headerfoto: Sarah Diniz Outeiro via Unsplash.com. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

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